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Die Eingangsrotunde der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße.

© Centrum Judaicum, Henry Lucke

Centrum Judaicum: Herz und Hirn

„Tuet auf die Pforten“: Das Centrum Judaicum in der Neuen Synagoge Berlin hat nach achtmonatiger Bauzeit seine Dauerausstellung runderneuert.

Ratlos schaut das kleine Mädchen aus dem Fenster auf den mit Kieselsteinen bedecken Hinterhof. Links ein Neubau, rechts eine Brandmauer, hinten sechs im Halbrund aufgestellte Säulen. Nichts davon bannt ihren Blick. Vier, vielleicht fünf mag sie sein. Der Vater, der eben noch die neben der Fensterfront aufgestellte Tafel studiert hat, hockt sich hin, nimmt das Kind in den Arm und erklärt. „Das war mal der Hauptbetsaal der Neuen Synagoge. Er reichte bis zu den Säulen dahinten. 3200 Menschen passten hinein.“ Das Kind windet sich ungeduldig, die Erklärung für die dröhnende Leere leuchtet ihm nicht wirklich ein.

Das geht auch erwachsenen Besuchern der Neuen Synagoge so, die nach dem Teilaufbau der kriegszerstörten Ruine 1995 als Centrum Judaicum wieder eröffnete. Nach wie vor könnten es die Touristen nicht fassen, dass hinter dem Lindengrün der Oranienburger Straße unversehrt wirkende Backsteinfassade kein prächtiges Gotteshaus mehr stünde, sagt Kuratorin Chana Schütz. Wo doch die Kuppel so golden leuchtet!

Diese Diskrepanz war denn auch die Grundfrage bei der 1,1 Millionen teuren Neugestaltung der Dauerausstellung „Tuet auf die Pforten“, die nach acht Monaten Bauzeit nun wieder geöffnet hat: „Wie zeigt man etwas, dass nicht mehr existiert?“

Ausblick über das Dächergewirr von Berlin Mitte

In dem man die Atmosphäre der geretteten Gebäudeteile wirken lässt und sie mit einem Konzentrat an Fakten und Lebensgeschichten füllt, die vom jüdischen Leben in der Synagoge und der Stadt und von dessen Vernichtung durch die Nationalsozialisten erzählen. Das lässt sich nach einem Hirn und Herz gleichermaßen erregenden Rundgang von der Eingangsrotunde bis hinauf zum Kuppelraum sagen. Die ringsum laufende Fensterfront bietet Ausblicke über das Dächergewirr von Mitte. Und wer sich ermattet in einen der dort aufgestellten Sitzsäcke plumpsen lässt, kann nun die freigelegte Holzkonstruktion der 50 Meter hohen Tambourkuppel mustern, deren Pracht die Architekten Eduard Knoblauch und Friedrich August Stüler orientalischer Architektur nachempfunden haben.

Eine Etage tiefer liegt der renovierte, ehrwürdige Repräsentantensaal, in dem vor dem Krieg Gemeindevertreter tagten. Die beiden Gemälde von Max Liebermann, die hier ausgestellt sind, gehörten einst zur Sammlung des im Nachbargebäude befindlichen Jüdischen Museums. Auf Tablets lassen sich in der kontemplativen Atmosphäre des holzverzierten runden Raums Interviews mit Frauen und Männern anschauen, die als Kinder aus ihrer Heimat Berlin fliehen mussten. Sie stammen von der Berliner Dokumentaristin Britta Wauer, die sich mit Kinofilmen über den Jüdischen Friedhof Weißensee und den Rabbiner William Wolff einen Namen gemacht hat.

In der schönsten Synagoge des Landes pochen Juden auf Deutungshoheit

Dem steht im Erdgeschoss ein historisches Filmdokument gegenüber, dass einem ob seiner Arglosigkeit die Tränen in die Augen treibt. Die Aufnahme für die UFA-Wochenschau ist nur zweieinhalb Minuten lang und zeigt eine Chorprobe des Frauenchors der Neuen Synagoge vor dem Neujahrsfest 1932. Stimmstarker Solist ist der Oberkantor Leo Gollanin. Er und die Gruppe sorgfältig gekleideter und ondulierter Frauen sind ein reines Sinnbild kunstbeflissener Bürgerlichkeit. Das wird sie nicht vor den Nazis schützen, die sechs Jahre später in der Pogromnacht die Neue Synagoge verwüsten. Sie durch den transparenten Bildschirm – gewissermaßen auf die versehrten Wände der Vorsynagoge projiziert – musizieren zu sehen und dabei auf einer Bank aus der 1956 gesprengten Synagoge Münchener Straße zu sitzen, ist bitter. Welche der Sängerinnen gehört wohl zu den 50 000 Berliner Jüdinnen und Juden, die im Nationalsozialismus ermordet werden? Und speist derselbe Geist der Feindschaft und Ignoranz, der die Menschen im Nachkriegs-Berlin selbst unversehrte Synagogen sprengen ließ, nun die antisemitischen Pöbeleien und Übergriffe, die heute erneut jede Woche geschehen?

Alter Glanz. Der Hauptbetsaal der Neuen Synagoge ist kriegszerstört. Die aktualisierte Ausstellung in den ehemaligen Vorräumen zeigt Zeugnisse jüdischen Lebens.
Alter Glanz. Der Hauptbetsaal der Neuen Synagoge ist kriegszerstört. Die aktualisierte Ausstellung in den ehemaligen Vorräumen zeigt Zeugnisse jüdischen Lebens.

© Kitty Kleist-Heinrich, Centrum Judaicum

Noch vor dem Betreten der Eingangsrotunde ist diesen Fragen in der besucherfeindlichen, aber offenkundig nötigen Sicherheitsschleuse nicht zu entkommen. Trotzdem oder gerade deswegen verweigert das Centrum Judaicum die flächendeckende Zurschaustellung antisemitischer Stereotype. In der einst größten und schönsten Synagoge des Landes, zu deren Einweihung 1866 sogar der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck erschien, pochen die Juden auf ihre Deutungshoheit.

Schicksalhaftes Beispiel aus dem Holocaust

Wertvolle Sakralgegenstände wie der goldbestickte, rotsamtene Tora-Vorhang oder die Ewige Lampe, die den 9. November 1938 brennend überstanden haben soll, sprechen vom Selbstbewusstsein und dem Wohlstand der zum Zeitpunkt der Einweihung 28 000 Mitglieder starken jüdischen Gemeinde, die bis 1925 auf knapp 173 000 Menschen wächst. Nirgends sonst in Berlin ziehen die Gläubigen – wie hier – direkt von der Straße in ein Gotteshaus ein. Die Hauptsynagoge ist der Architektur gewordene Stolz auf das gesellschaftlich, kulturell und wirtschaftlich Erreichte. Das Wort des Propheten Jesaja „Tuet auf die Pforten, dass einziehe das gerechte Volk, das bewahret die Treue“, steht auch heute wieder in goldenen Lettern an der Fassade. Die verwitterten Originallettern markieren in einer die Rotunde diagonal durchmessenden Vitrine den Anfang eines symbolischen Spalts, der sich durch die Erdgeschossräume zieht.

Dass die Neue Synagoge mit ihren vielfarbig schimmernden Fenstern, der Marmorausstattung und der modernen Eisengusskonstruktion, zu den touristischen Attraktionen der Stadt gehört, zeigt eine vergrößerte Postkarte, die ebenfalls hier hängt. Erst auf den zweiten Blick offenbart sich der antisemitische Seitenhieb, der auf dem sonst harmlosen Dokument prangt. „Riechste Knoblauch?“, hat der Absender die „maurische“ Anmutung des Gotteshauses kommentiert. Auf der Rückseite werden zudem die zeitgenössischen Antisemiten Paul des Lagardes und Heinrich von Treitschke zitiert. Nicht nur für letzteren stellt die Neue Synagoge eine Provokation dar, die die später von den Nazis als Holocaust-Vorlage genutzte Behauptung stützt, dass die Juden zu reich und zu mächtig seien.

Welche Folgen so eine Denke zeitigen kann, ist zwei Räume weiter zu sehen, wo das Leben des Kurt Heinz Aron aus der Oranienburger Straße 32 in Dokumenten und Briefen geschildert wird. 1914 zieht er in deutschem Namen in den Ersten Weltkrieg. 1943 wird er in deutschem Namen in Ausschwitz ermordet. Dieses eine – exemplarisch erzählte Schicksal – reicht völlig aus, um die Schrecken des Judenmords vor Augen zu führen. Gerade angesichts erstarkender Judenfeindlichkeit darf das am Ort einstiger religiöser Herrlichkeit nicht fehlen.

Centrum Judaicum, Oranienburger Str. 28-30, Mitte, Mo-Fr 10-18 Uhr, So 10-19 Uhr

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