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Von Shenzen geschluckt. Das Dorf Xiasha, rechts die Ahnenhalle.

©  Gong Zhiyuan

Chinesische Megacity Shenzen: Stadt essen Seele auf

Kinderspaß mit Hintersinn: In der Architekturgalerie Aedes baut der Künstler Song Dong die chinesische Megacity Shenzen mit Keksen nach.

Berlin wächst. Die Wachstumsschmerzen fühlt mittlerweile jeder, vor allem in Form fehlender Wohnungen und versagender Infrastruktur. Aber was ist dieses Wachstum, verglichen mit demjenigen chinesischer Städte! Das Paradebeispiel ist Shenzen, entstanden als Sonderwirtschaftszone an der Grenze zu Hongkong. 1978 zählte Berlin 3,5 Millionen Einwohner, Shenzen gerade einmal 100 000. Vierzig Jahre später ist Berlin bei 3,7 Millionen angelangt, Shenzen hingegen – festhalten! – bei 20 Millionen.

Die Stadt frisst alles auf, was eben noch da war, sie erneuert sich in ungeheurem Tempo. Song Dong, 52-jähriger Künstler und Absolvent der Universität Peking, baut seit einiger Zeit „essbare Städte“ aus Schokokeksen. Nun hat er zur Ausstellung „Shenzen-ness“ in der Architekturgalerie Aedes eine solche Keks-Stadt aufgeschichtet, die von den Eröffnungsgästen anfangs ehrwürdig umrundet und bestaunt wurde, auf die Aufforderung hin, sich doch an dem Süßzeug gütlich zu tun, allmählich angeknabbert und dann in immer schnellerem Tempo verschlungen, in bereitgestellte Tüten verpackt oder schlicht zerbröselt wurde. Ein Kinderspaß mit Hintersinn.

Die harten Fakten zu Shenzen werden im zweiten Raum der Galerie geliefert. Da steht ein furchterregend verwinkeltes Metallgerüst, in das eine Art Steg als Rundweg eingelassen ist; zusätzlich kann der Besucher in eine obere Etage steigen. Man lernt, dass der Durchschnittsmonatslohn in Shenzen umgerechnet 230 Dollar beträgt und damit ein Drittel dessen, was im benachbarten Hongkong gezahlt wird. Man lernt aber auch, dass 450 000 Menschen im 1150 Hektar großen Technologiepark arbeiten, was eine Dichte von 390 Personen pro Hektar ergibt – das Dreifache von Adlershof in Berlin, wie der Katalog festhält. Dichte, so kommt es immer wieder zu Bewusstsein, bedeutet nicht notwendigerweise Enge, sondern eben auch Energieballung. Die Fotografien zeigen Gebäudecluster, wie sie nicht einmal die kühnsten Fantasien für die Nachnutzung des Flughafens Tegel dem Computer entlocken können.

Shenzen ist in jeder Hinsicht eine andere Welt

Merkwürdigerweise befinden sich inmitten dieser Megastadt Shenzen Inseln der Vergangenheit. Da gibt es das Dörfchen Xiasha, dessen Bewohner noch vor wenigen Jahrzehnten vom Fischfang lebten und das heute von Wohnhochhäusern umstellt ist. Xiasha sei die Heimat eines bestimmten Clans, der das Dorf seit 800 Jahren regiert habe, lässt der Katalog wissen; ohne zu erklären, wie diese Herrschaftsform nun andauere oder wie man sie sich innerhalb des Stadtgefüges von Shenzen überhaupt vorzustellen habe. Auf jeden Fall gibt es eine Ahnenhalle direkt am zentralen Platz, der andererseits von einem mit roten Fahnen gespickten Gebäude überragt wird. Koexistenz von Alt und (nicht mehr ganz so) Neu?

Das Eigentümlichste aber ist die Siedlung Dafen, Konglomerat vergleichsweise niedriggeschossiger Wohnbauten auf gerade einmal acht Hektar, eingekeilt zwischen zwei Stadtautobahnen. Dort leben die geschäftigsten Bilder-, nein, nicht -fälscher, sondern -kopisten der Welt. Sie können jeden Rembrandt, jeden Van Gogh und überhaupt jedes westliche Gemälde nachmalen und haben dies bis zur Finanzkrise 2008 auch an weltweit führender Position getan. Inzwischen dominiert der Handel mit Malereiutensilien und Rahmen; immerhin 8000 Beschäftigte sind hier tätig, die Einwohner von Dafen stellen die bauliche Infrastruktur bereit.

Bei Aedes hängen einige der kopierten Gemälde an der Wand; ob man sie bei sich zu Hause würde sehen wollen, mag der Besucher für sich entscheiden. Shenzen ist in jeder Hinsicht eine andere Welt, Berlin dagegen beschaulich. Beim Hinausgehen schnell noch ein paar Schokokekse greifen. Gegen trübe Gedanken hilft Süßes allemal.

Aedes Architecture Forum, Christinenstraße 18–19 (am Pfefferberg), bis 15. August. Katalog 10 €.

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