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Frei sein und schreiben. Liao Yiwu in Charlottenburg.

© Mike Wolff

Chinesischer Dissident in Berlin: Ein Müllplatz namens China

Opfer und Zeuge: Der Dichter Liao Yiwu ist vor dem chenischen Ein-Parteien-Regime nach Berlin geflohen. Eine Begegnung mit dem Mann, über dessen Flucht zig Versionen existieren.

Zehn verschiedene Versionen, sagt Liao Yiwu und lacht. Zehn verschiedene Versionen von seiner Ausreise nach Deutschland kursieren in seinem alten Umfeld, unter seinen Freunden, in den Medien, bei den Offiziellen. Der chinesische Schriftsteller Liao Yiwu, 1958 geboren, ist am 6. Juli am Flughafen Berlin-Tegel gelandet, fürs Erste ist er in der Charlottenburger Wohnung einer Freundin untergekommen.

Hier sitzt Liao nun, mehr als eine Woche nach seiner Ankunft, ein kleiner, barfüßiger, glatzköpfiger Mann. Gerade hat er mit seiner Familie telefoniert, zum ersten Mal seit dem, was nicht nur westliche Medien als „Flucht“ bezeichnet haben. Zu Hause sehen ihn manche als Verräter, sagt er, eine Dolmetscherin übersetzt, manche sagen, er habe seinen Weggang von langer Hand geplant. Aber das sind alles Geschichten, sagt Liao. Ganz legal gereist sei er, mit Ausreisestempel und mit Einreisestempel. Alles in offizieller Ordnung.

„Natürlich“, sagt Liao, „habe ich die Polizisten, die für mich zuständig sind, nicht um Erlaubnis gefragt.“ Er war im Grenzgebiet zum Norden Vietnams unterwegs, ein sehr kleiner Ort, nur ein Schalter, eine kleine Brücke, dann war er drüben. Es lief ganz reibungslos. „Als ich auf die andere Seite ging“, sagt Liao, „habe ich an ein altes Lied gedacht, ich glaube, es ist jüdisch: ,Das Leben ist eine Brücke. Mach dir keine Sorgen, geh darüber.’“

Liao Yiwu hat eine lange Reise hinter sich, nicht nur die von Hanoi über Warschau nach Berlin, wo er nun bis auf Weiteres lebt. Liao ist einer von vielen chinesischen Künstlern und Intellektuellen, die vom Regime gegängelt und unterdrückt werden, 15 Reiseanträge wurden ihm verweigert. Er ist ein enger Freund des Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo, der 2009 wegen „Anstiftung zur Untergrabung der Staatsgewalt“ zu elf Jahren Haft verurteilt wurde, weil er das Bürgerrechtsmanifest „Charta 08“ unterstützt hatte. Auch Liao Yiwu unterzeichnete damals die Protestnote, die zu politischen Reformen und Demokratisierung aufrief.

Nach den Demonstrationen auf dem Tiananmen-Platz am 4. Juni 1989, in deren Verlauf tausende Studenten und Regimekritiker von Sicherheitskräften getötet wurden, brachte Liao, der schon damals auf der schwarzen Liste der Behörden stand, seine Erschütterung in Verse: „Wenn der Premierminister sich erkältet“, schreibt er in dem Gedicht „Massaker“, „haben die Massen zu niesen.“

Lesen Sie mehr im zweiten Teil.

Tonbandaufnahmen des Textes verbreiteten sich, Liao wurde festgenommen und saß von 1990 bis 1994 im Gefängnis. In einem Buch schildert er auf über 500 quälenden Seiten seine Erfahrungen aus dieser Zeit. Am Donnerstag, 21. Juli, erscheint es auf Deutsch (Liao Yiwu: Für ein Lied und hundert Lieder. Ein Zeugenbericht aus chinesischen Gefängnissen. Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann. S. Fischer Verlag, 584 Seiten, 24,95 €).

Liao beschreibt darin die „streng gegliederte moderne Sklavengesellschaft“ innerhalb der Gefängnisse, die Enge und die Läuse, die Nähe zu Todeskandidaten und den Lichtblick des Flötenspiels, die immer wiederkehrenden Befragungen und Leibesvisitationen. Und die Folter. Im Untersuchungsgefängnis kursiert eine „Speisekarte“ mit Martertechniken, die Liao aus dem Gedächtnis dokumentiert: „5. Gewölbtes Schweinemaul: Bambusstäbchen werden quer in die Ober- und Unterlippe gepresst, was zu Schwellungen und blauen Verfärbungen führt, die dann an einen Schweinerüssel erinnern.“ Oder: „14. Geräucherte Ente auf Sichuan-Art: Das Schamhaar wird verbrannt, die Vorhaut des zu Bestrafenden wird zurückgezogen und die Eichel schwarz geräuchert.“

Das Buch ist dokumentarisch, autobiografisch. Und von literarischer Qualität. Künstlerfreunde von ihm, darunter Liu Xiaobo, hätten es als „Lexikon für das chinesische Gefängnisleben“ bezeichnet. Eine wahrhaft schreckliche Enzyklopädie. Zweimal versuchte Liao sich im Gefängnis das Leben zu nehmen, erlitt Zusammenbrüche – aber überlebte. Am 31. Januar 1994 wurde er entlassen. Das Schreiben habe ihn gerettet, sagt er. Liao ist darauf bedacht, sich nicht als politischen Künstler zu bezeichnen, er stehe nicht in der ersten Reihe wie etwa Liu Xiaobo oder Ai Weiwei.

Eine Aussage, die vorsichtig klingt, zumindest bescheiden. Die chinesischen Behörden jedenfalls scheinen Liaos Schriften zu fürchten. Mehrmals durchsuchte die Polizei seine Wohnung, beschlagnahmte Manuskripte. Seinen „Zeugenbericht“ hat er seit 1998 zweimal neu schreiben müssen. Umso größer Liaos Erleichterung und Freude, dass das Buch jetzt nicht nur in Deutschland, sondern auch in Taiwan erscheint, dort in seiner chinesischen Originalversion.

„Das Buch war der Wendepunkt“, sagt er, im Fenster hinter ihm ein diesiger Charlottenburger Morgen. „Ich war ja ein Dichter. Durch die Erfahrungen im Gefängnis bin ich Zeuge der Geschichte geworden.“ Seine Aufgabe sieht er heute darin, die chinesische Geschichte zu schreiben. „Ich hege keine Liebe oder Hoffnung für dieses Land, ich habe kein Gefühl für das sogenannte Mutterland, ich nenne China den größten Müllplatz. Aber dort finde ich alle möglichen Geschichten. Allein das Material, das ich in meinem Computer gesammelt habe, reicht für drei Bücher.“ Sogar er selbst sei eine abenteuerliche Geschichte geworden. „Das konnte nur in China passieren!“

Liao Yiwu ist überhaupt grundneugierig. In „Fräulein Hallo und der Bauernkaiser: Chinas Gesellschaft von unten“ (S. Fischer Verlag 2009, 544 Seiten, 22,95 €), interviewt er Toilettenputzer, Prostituierte, alte Mönche, politische Häftlinge und Straßenkünstler. Menschen abseits der offiziellen chinesischen Erfolgsstory. „Land der Lügen“ nennt Liao dieses China – und will der Welt seine Heimat aus anderem Winkel zeigen. Dem Regime passte das nicht: „Fräulein Hallo“ wurde unmittelbar nach seinem ersten Erscheinen 2001 verboten.

Lesen Sie mehr im dritten Teil.

Und Liao blieb im Visier der Polizei. Als er Anfang 2010 zur lit.cologne eingeladen war und nicht reisen durfte, schrieb er an Kanzlerin Angela Merkel: „Lassen Sie es nicht zu, dass die Literatur erneut von der Macht gedemütigt wird.“ Später übergab er einem deutschen Konsulatsmitarbeiter eine raubkopierte chinesische DVD des Films „Das Leben der anderen“, um Merkel an sein Anliegen zu erinnern. Doch vergebens: In Chengdu wurde er aus dem Flugzeug heraus verhaftet, verhört und vorübergehend unter Hausarrest gestellt.

Eigentlich sollte die deutsche Ausgabe von Liaos Gefängnis-Erinnerungen bereits im April erscheinen, sagt der Autor. „Aber die Regierung sagte: Du darfst die Situation in den Gefängnissen nicht nach außen tragen. Wenn du das tust, werden wir nicht mehr höflich zu dir sein.“ Aus Sorge um Liaos Sicherheit verschob der Verlag den Termin, immer wieder. Während dieser Zeit war Liao auf Literaturfestivals in die USA und nach Australien eingeladen, durfte aber nicht reisen. Beim PEN-Treffen in New York im April stellte Salman Rushdie für den fehlenden Liao einen leeren Stuhl auf die Bühne – so wie es das Nobelpreiskomitee 2010 für den inhaftierten Liu Xiaobo getan hatte.

Nun ist Liao Yiwu in Deutschland, er hat es in China einfach nicht mehr ausgehalten. Wegen der Jasmin-Revolutionen in aller Welt sei der Druck in China so groß wie seit 20 Jahren nicht mehr, sagt Liao. Aber auch der Gegendruck wächst: Der Juni sei ein „Bombenmonat“ gewesen. „Es gab viele Demonstrationen mit Selbstverbrennungen, mit Explosionen.“ Aus diesem Schlachtfeld ist Liao geflohen – um darüber zu schreiben. Er beobachte, wie Revolution stattfindet, sagt Liao. „Die Dynamik, die Kraft kam von ganz unten, von den Menschen.“ Und dann sei da die Internet-Generation, die jungen Leute mit ihren Blogs. „Die alten Polit-Kader mit ihren grauen Gesichtern, die nehmen dieses Kinderspiel ernst!“

Nachdem er in Deutschland sein neues Buch vorgestellt hat, wird Liao in die USA reisen, wo bald „Gott ist rot“ herauskommt, seine Geschichte der Christen in China. 2012 soll es auch auf Deutsch erscheinen. Das sei doch normal für einen Schriftsteller: „Reisen, Lesungen halten.“ Das kommende Jahr wird Liao Yiwu, mit einem Stipendium des DAAD, wieder in Berlin verbringen. Die Freiheit genießen. Und schreiben.

Und abwarten. In China wechselt im Januar die Regierung. Deshalb gleich optimistisch ist Liao aber keineswegs: „Einerseits warte ich ab, wie China sich ändern wird. Andererseits warte ich, wie ich mich selbst verändere“, sagt er. „Im Moment lebe ich eigentlich noch in China, auch wenn ich geografisch in Deutschland bin. Ob dieses Gefühl irgendwann abnimmt, weiß ich nicht. Aber ich bin auch gespannt auf die Veränderung.“

Eine Zukunft im Exil – was hat Liao Yiwu in China zurückgelassen? „Eigentlich bin ich erleichtert“, sagt er. „Ich habe alles bei mir, in meinem Kopf. Und ich bin jetzt in Freiheit, ich lebe hier, das ist alles, was ich will: In Freiheit leben und schreiben.“

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