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Volles Rohr. Amerikanische Artilleristen beschießen im September 1918 die deutschen Stellungen bei Verdun. Foto: France Presse Voir/AFP

© AFP

Christopher Clark über den Ersten Weltkrieg: Die Jahrhundertkatastrophe

In seinem Bestseller "Die Schlafwandler" stellt Christopher Clark die deutsche Schuld am Ersten Weltkrieg in Frage. Im Interview sagt der Historiker aus Cambridge: Der Kriegsausbruch folgte keinem Automatismus, er hätte vermieden werden können.

Mister Clark, die meisten Intellektuellen bejubelten den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Woher kam diese Verblendung?
Auf beiden Seiten der Front, in allen europäischen Ländern gab es einen defensiven Patriotismus, die Bereitschaft, das jeweilige Vaterland zu verteidigen. Nicht nur bei den Eliten. Grundüberzeugung war, selber angegriffen zu werden. Viel seltener war die Bereitschaft, in einen Angriffskrieg zu ziehen, einen aggressiven Krieg in Kauf zu nehmen.

Und überall  waren die Menschen überzeugt, dass die jeweils andere Seite der Aggressor sei?
Ja, das ist eine Eigenart der Krise im Juli 1914. Auch die Entscheidungsträger, die den Krieg mit herbeigeführt haben, waren überzeugt: Der Krieg wird nicht von uns ausgelöst, sondern nur angenommen, als Angebot von außen. Der deutsche Kanzler Bethmann Hollweg zum Beispiel will überhaupt nicht, dass sein Land einen Angriffskrieg entfesselt. Er muss sich überzeugen: Der Krieg kommt aus dem Osten, er wird den Deutschen von den Russen aufgezwungen. Die Russen meinen: Naja, wir wollten diesen Krieg nicht, aber die Österreicher und ihre deutschen Verbündeten als treibende Kraft wollen uns über Provokationen in einen Krieg zwingen. Wir gehen ihnen nicht aus dem Weg. Niemand sagt: Wir sollten einen Krieg anfangen, weil es gut wäre für uns oder Europa. Der Krieg kommt als eine historische Notwendigkeit von außen, ihn zu akzeptieren bringt keine Verantwortung mit sich, belastet den Einzelnen nicht mit ethischer Verantwortung. Das war eine fatale Inkonsequenz des damaligen Denkens.

Sie zitieren Sigmund Freud mit dem Satz bei Kriegsbeginn: „Meine ganze Libido gehört Österreich-Ungarn.“ Ließen sich die Akteure des Sommers 1914 statt von der Vernunft von Emotionen und atavistischen Trieben leiten?
Man fragt sich natürlich: Wieso hat Österreich-Ungarn nicht gewonnen mit dieser furchtbaren Geheimwaffe der Freudschen Libido? Emotionen spielten schon eine Rolle, aber wie man sie in das Kausalgefüge, das zum Krieg führte, einordnen sollte, ist nicht eindeutig. Manchmal hat man das Gefühl, die Menschen sind von Emotionen getrieben, sie benutzen die Sprache der Emotion. Manchmal hat man das Gefühl, dieser Diskurs wird mobilisiert. In Russland wird zum Beispiel immer wieder von einem Gefühl der Erniedrigung durch Deutschland und die Mittelmächte gesprochen. Man bezog sich auf die bosnische Annexionskrise von 1908, aber wenn man sie sich näher anguckt, kann man keine Erniedrigung erkennen. Der Begriff generiert die Emotionen, die man braucht, um seine eigenen Handlungen zu legitimieren.

Wer stand hinter der Manipulation, die Medien?
Die Entscheidungsträger, die sehr manipulativ mit den Medien umgehen. Natürlich gibt es Gefühlsaufwallungen in den Medien, ganz klar, sie verkaufen ihre Blätter mit Emotionen. Aber wenn man fragt: Wie gehen die Politiker mit diesem Phänomen um, sind sie Treibholz auf dem Strom der öffentlichen Gefühle, dann meine ich: Ganz im Gegenteil, sie wollen manipulieren. Der Außenminister Russlands sagt zum Beispiel seinen Botschaftern: Ihr könnt immer argumentieren, dass wir unter dem Druck der öffentlichen Meinung agieren. Gleichzeitig läst der Minister durchblicken: Wir lassen uns nicht von der Presse treiben, es ist nur nützlich, dieses Argument zu benutzen.

Die Behauptung, dass die Völker Europas begeistert in den Krieg zogen, halten Sie für einen Mythos. Aber es gibt etwa das Foto von einer Menschenmasse, die in München die Kriegserklärung feiert, darunter der junge Adolf Hitler. Täuschen die Bilder?
Natürlich gab es Versammlungen dieser Art in den Großstädten. Viel wichtiger war jedoch die Reaktion außerhalb, in der Provinz, in nichtbürgerlichen Kreisen. Je weiter man weg geht von den Entscheidungsträgern, desto weniger Verständnis zeigen die Menschen für einen Krieg, in dem sie verheizt werden sollen. Das belegt auch die Fadenscheinigkeit der Behauptung, dass die Politiker unter dem Druck der öffentlichen Meinung handelten. Quellen aus Russland sprechen von einem tiefen Schweigen, unterbrochen nur von dem Weinen von Frauen und Kindern, sogar von Männern. Wenn dann aber die Mobilisierung losgeht, dann herrscht Aufregung, die Männer, die an die Front ziehen, tragen die Hoffnung der ganzen Nation mit sich. Heute kann man sich dieses Bild nicht mehr vorstellen, wie eine ganze Generation von jungen Männern in den Krieg zieht.

Hat die Unbekümmertheit, mit der die Staaten in die Katastrophe stolperten, auch damit zu tun, dass in Mitteleuropa mehr als 40 Jahre Frieden geherrscht hatte, die Schrecken des Krieges vergessen waren?
Auf dem Balkan hatte es allerdings in letzter Zeit zwei Kriege gegeben, furchtbare Kriege mit großen Todeszahlen. Und auf Seiten der Militärexperten gab es viele Denkschriften und Szenarien, die den kommenden Krieg ziemlich genau vorwegnahmen. Eine österreichische Studie rechnete vor, mit welchen Todeszahlen zu rechnen sein musste, sie gingen in die Millionen. Die Zeitungen würden nicht alle Namen der Toten drucken können. Hin und wieder gab es durchaus die Einsicht, dass der nächste Krieg katastrophal ausfallen würde. Man sprach von Armageddon und der Auslöschung der europäischen Zivilisation. Andererseits hoffte man durch einen schnellen Krieg, durch eine Entscheidungsschlacht, den Gegner so schnell zu besiegen, dass die Katastrophe ausbleiben würde. Doch die Menschen hatten nicht jenes Gefühl aus dem Bauch heraus für die Schrecken des Krieges wie wir. Obwohl wir in Europa seit Jahrzehnten keinen Krieg erlebt haben, haben wir ein starkes Gefühl für den Horror eines Atomkrieges geerbt. Die medialen Bilder aus Hiroshima und Nagasaki sind zu unseren Alpträumen geworden. 1914 war das anders. Man hat es gewusst, aber nicht gefühlt.

Sie vergleichen die Spannungen zwischen den beiden Machtblöcken vor 1914, den Entente-Staaten Frankreich, England und Russland auf der einen und den Mittelmächten Deutschland und Österreich-Ungarn auf er anderen Seite mit dem Kalten Krieg. Der Kalte Krieg endete friedlich. Heißt das: Politiker lernen aus der Geschichte?
Mein Kollege Martin van Creveld würde sagen: Das hat nichts mit Lernen zu tun, sondern mit Kernwaffen. Seit Kernwaffen in der Welt sind, kann es zwischen den Großmächten keinen richtigen Krieg geben. Er nennt die Kernwaffen deshalb das schönste Geschenk, das sich die Menschheit je gemacht habe. Allerdings war die Lage des Kalten Krieges ganz anders als die Lage vor 1914: bipolar stabil statt multipolar instabil. 1914 waren auch die Bündnisse labil, sie waren von starkem Misstrauen nach allen Seiten geprägt. Die Unterschiede sind größer als die Ähnlichkeiten. Jetzt geraten wir allerdings wieder in eine ähnliche Lage, die Macht ist polyzentrisch verteilt, es gibt mehrere regionale Krisen. Unsere Welt ähnelt immer mehr der Welt vor 1914, eine beunruhigende Entwicklung. Die Übermacht der Vereinigten Staaten ist heute viel größer als die Vorherrschaft Großbritanniens damals. Die USA besitzen das, was Geostrategen Full Spectrum Dominance nennen. Noch,  das wird nicht ewig dauern.

Warum der Erste Weltkrieg nicht unvermeidlich war

Ihr Buch heißt „Die Schlafwandler“. Entheben Sie damit nicht die Entscheider von damals ihrer Verantwortung, denn Schlafwandler trifft ja für das, was sie tun, keine Schuld?
Die Metapher hat ihre Grenze. Ich fand „Schlafwandler“ passend, weil der Schlafwandler in einem sehr begrenzten Sinn Absichten fassen und Handlungen einleiten kann. Er kann zum Beispiel um drei Uhr in der Nacht sein Frühstück vorbereiten oder die Koffer packen. Was ihm fehlt, ist ein Gefühl für die Folgen seines Handelns. Alles, was 1914 geschah, folgte keinem Automatismus, es waren Entscheidungen aus freien Stücken. Jeder Entscheidungsträger hatte Optionen. Aber sie waren überzeugt, unter Zwang zu handeln. Damit haben sie sich quasi zu Automaten hinabgedacht.

Der Erste Weltkrieg war nicht unvermeidlich?
Überhaupt nicht. Es gab Alternativen. Mein Kollege Holger Afflerbach von der Universität Leeds hat einen Sammelband herausgebracht: „The Improbable War“, der unwahrscheinliche Krieg. Man kann sogar sagen, dass bis zum Juli 1914 der Krieg unwahrscheinlicher geworden war, die Zeichen standen auf Entspannung. Auch die Medienkriege zwischen deutschen und britischen Zeitungen hatten nachgelassen. Zwischen Österreich und Serbien begannen viel versprechende Verhandlungen über Staatsfragen und den Austausch von politischen Gefangenen. Die Bündnisse waren flüssig geworden, hätten leicht auseinander reißen können. Es hätte anders kommen können. Wenn Europa diesen Sommer überlebt hätte.

Deutschland – so lautet das Fazit Ihrer Analyse – sei nicht der Hauptschuldige für den Kriegsausbruch gewesen. Wer denn dann?
Das Buch stellt der deutschen Außenpolitik keinen Freispruch aus, überhaupt nicht. Es geht nicht um einen Rückfall in die Position der Zwischenkriegszeit. Im Hass auf den Versailler Vertrag stellten sich die Deutschen damals als Unschuldslämmer dar, die von ihren Nachbarn überfallen wurden. Diese These ist genauso irreführend wie die These von der deutschen Alleinschuld. Aber das Buch ist nicht primär an der Frage der Schuld interessiert. Seine Frage lautet: Wie kam es zum Krieg? Dazu muss man jede Entscheidung, die den Krieg wahrscheinlicher machte, genauestens untersuchen. Erst dann darf man die Frage stellen: Wie verteilt sich die Verantwortung? Die Antwort lautet: gleichmäßiger, als man denkt. Es gibt keinen Hauptverantwortlichen. Aber es gibt Nicht-Verantwortliche. Belgien zum Beispiel, das von Deutschland angegriffen wurde. In England werden mitunter beide Weltkriege als gerechte Kriege beschrieben, mit Deutschland als bösartigem und arroganten Feind. Das ist Jingoismus, übersteigerter Patriotismus nach dem Motto: „We are right and we will fight.“

Aber es gibt auch Argumente für eine deutsche Kriegsschuld. Bisher galt es als Konsens unter Historikern, dass Kaiser Wilhelm II. mit der Aufrüstung seiner Flotte sich England zum Feind machte. Was ist falsch daran?
Der Flottenbau folgte einer fehlerhaften Politik. Es gab keine Leitidee, kein gemeinsames Konzept einer See- und einer Landstrategie. Deutschland glaubte durch den Flottenbau aus seiner Umklammerung auf dem Kontinent ausbrechen zu können. Es ging auch um Kolonien und Wilhelms Wunsch nach einem „Platz an der Sonne“. Im Vordergrund stand aber der Wunsch, als ebenbürtige Großmacht von den anderen Großmächten ernst genommen zu werden. In den achtziger und neunziger Jahren hatten die Deutschen wiederholt die Erfahrung gemacht: Wer ohne eine bedeutende Kriegsflotte versucht, in der Weltpolitik Einfluss zu bekommen, wird scheitern. Ein Beispiel war die Transvaal-Krise im Süden Afrikas, wo die Deutschen auch Interessen besaßen, sie aber überhaupt nicht verfolgen konnten. Wilhelm konnte seine „Krüger-Depesche“ versenden, aber keine Schiffe und Truppen schicken. Der Navalismus war die modische Doktrin der Zeit, ihm folgten auch Franzosen, Russen, Japaner und Amerikaner. Alle bauten neue Flotten. Und der Einfluss der deutschen Flotte auf das britische Sicherheitsdenken wurde krass überschätzt. Den Rüstungswettlauf haben die Briten mühelos gewonnen. Die „naval panic“ in britischen Medien wurde zum Teil von Befürwortern des Flottenbaus ausgelöst, um an Staatsgelder zu kommen. Bei der Betonung der deutschen Alleinschuld ist auch ein Stück negativer Nationalismus im Spiel, eine Überschätzung der Bedeutung Deutschlands.

Wilhelm II. hat durch ungeschickte Äußerungen manches diplomatische Desaster ausgelöst. Sie nennen ihn im Buch eine „Nervensäge“. War er eine große Fehlbesetzung?
Leider gab es für den deutschen Kaiser kein Auswahlverfahren. Er wurde in seine Position durch die dynastische Biologie eingesetzt. Wenn er ein Botschafter gewesen wäre, hätte man ihn hundertmal gefeuert. So viele Entgleisungen und Taktlosigkeiten hätte sich kein Angestellter leisten können. Allerdings wussten die Zeitgenossen, dass der Kaiser eine große Klappe besaß, mit wenig dahinter. Seine Tiraden waren berüchtigt, doch wenn es hart auf hart kam, hat er zurückgezogen. Bei den Militärs hatte er den Ruf eines Friedenskaisers. Sie glaubten, mit ihm nie einen Krieg führen zu können. Eine extrem widersprüchliche Figur. Wobei sich unter seinen Tiraden manchmal auch gesunde geopolitische Einsichten finden. Etwa, wenn er von der wachsenden Bedeutung Japans spricht.

Sie haben eine Biografie über Wilhelm geschrieben und meinen, seine Auftritte erinnerten an einen verzogenen Teenager. Heimlich mögen Sie ihn. Richtig?
Was ich nicht mag, ist, wenn man sich ein Thema wie den Kriegsausbruch durch Dämonisierungen zu einfach macht. Da ist viel Selbstentlastung dabei. Aber ob ich Wilhelm mögen könnte? Neben diesem Kaiser bei einem Transatlantikflug sitzen zu müssen, wäre eine Stunde lang lustig. Nach einigen Gläsern Wein würden unterhaltsame Taktlosigkeiten kommen. In der dritten Stunde, wenn man langsam schlafen möchte, würde es unerträglich werden. Eine Tortur. Bei den anderen Royals war Wilhelm eine Schreckensfigur. Man fürchtete, neben ihm platziert zu werden. Zar Nikolaus hatte einen Horror vor gesellschaftlichen Begegnungen mit ihm. Er fühlte sich von Wilhelm in die Ecke gedrängt und niedergequatscht. Wilhelm war ein Inbegriff für das, was man im edwardischen England „the club bore“ nannte. In jedem Club gab es einen, der pausenlos quatschte und dabei nur Langweiliges mitzuteilen hatte.

Als mentalen Hintergrund für den Kriegsausbruch nennen Sie eine „Krise der Männlichkeit“ um 1900“. Was meinen Sie damit?
Wenn man sich die Begründungen der Akteure für ihre Entscheidungen, überhaupt ihre Sprache näher anguckt, stößt man immer wieder auf Redewendungen, die mit Männlichkeit zu tun haben. Wir bleiben hart, wir müssen Stärke demonstrieren. Klein beizugeben wäre ein Akt der Selbstentmannung. Der britische Botschafter in Paris sagt: Die Deutschen wollen uns ins Wasser schieben und unsere Kleider klauen. Darin sehe ich einen Unterschied zu einer früheren Generation von Staatsmännern. Die sahen auch anders aus, sie waren dicker. Bismarck zum Beispiel hat wie ein Schwein gegessen. Mit Männlichkeit verbanden diese Genussmenschen Weisheit und Schläue, sie versuchten, ihre Gegner zu überlisten. Das war ein flexibleres Bild des männlichen Verhaltens, das weniger mit Härte und Unnachgiebigkeit zu tun hatte. Die Zeit um 1910 ist eine Ära der Nervenzusammenbrüche und Duelle. Ein schiefer Blick genügte, um zum Duell aufgefordert zu werden. Viele Militärs gaben sich als stramme, steife Burschen, gleichzeitig litten sie unter diesem Rollenbild. Der österreichische Generalsstabschef Conrad von Hötzendorf, ein besonders bizarres Exemplar, sehnte sich nach der Gesellschaft von Frauen und ließ im Krieg seine Frau ins Hauptquartier kommen. Das war natürlich ein grober Fauxpas.

Sie nennen die Julikrise 1914 das „vielleicht komplexeste Ereignis aller Zeiten“. Was können wir heute daraus lernen?
Der Erste Weltkrieg erinnert uns daran, dass Kriege immer für ein Scheitern stehen, das größte Scheitern der Menschen. Es ist so leicht, die Wonnen des Friedens zu übersehen, Frieden für langweilig zu halten. Kriege lassen sich nicht kontrollieren, kein anderer Krieg zeigt das auf so schreckliche Art wie der Erste Weltkrieg mit seinen 20 Millionen Toten. Wenn man die Entscheidungsträger des Sommers 1914 per  Zeitmaschine auf die Schlachtfelder von Verdun oder an der Somme hätte transportieren können, hätte keiner das ausgehalten. Sie wären zusammengebrochen. 

Das Gespräch führte Christian Schröder.

Christopher Clarks Buch "Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog" ist bei DVA erschienen (895 Seiten, 39,99 €).

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