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Christopher von Deylen im Fernsehturm am Alex.

© privat

Christopher von Deylen alias Schiller: Jenseits der Komfortzone

Christopher von Deylen, alias Schiller, macht seit Jahren erfolgreich elektronische Musik. Auf seinem neuen Album „Opus“ hat er nun die Klassik für sich entdeckt. Wir trafen ihn auf dem Fernsehturm am Alexanderplatz.

Um die Mittagszeit hängen die Wolken tief über dem Alexanderplatz und die schwüle Luft schiebt sich wie eine unsichtbare Wand den Touristen und Passanten entgegen, die wie Ameisen um den Fuß des Fernsehturms wuseln. Der Musiker Christopher von Deylen, alias Schiller, steht verabredungsgemäß vor dem Souvenirshop und betippt sein schwarzes iPhone. Das gefühlte Augenmaß liegt irgendwo bei einem Meter neunzig Körpergröße. Er trägt Dreitagebart, eine schwarz umrandete Brille, schwarze Hose, schwarzes Jackett, darunter ein petrolblaues Shirt. Fast könnte man von einem modischen Understatement sprechen, wären da nicht die Sneakers und die Nylontasche in Neonfarben für den gewissen Berlin-Mitte-Touch.

An den Warteschlangen geht es bequem vorbei bis zum Fahrstuhl. Von Deylen gehört nicht zu der Sorte Musiker, die in der Öffentlichkeit von Groupies mit dringendem Autogrammwunsch umzingelt werden. Ob ihm das angenehm ist oder nicht, lässt sich schwer sagen.

40 Sekunden und 207 Höhenmeter später sitzt er mit verschränkten Armen an einem Fensterplatz im rotierenden Telecafé des Fernsehturms, gegen Fahrtrichtung, und guckt auf die Stadt hinunter. „Hier läuft man immer mit so einer gewissen Achtlosigkeit vorbei“, sagt von Deylen und zieht sein Smartphone aus der Hosentasche, um ein paar Fotos zu knipsen. „Sicher gibt es schönere Orte in Berlin, aber für mich hat der Alexanderplatz etwas sehr Reales.“ Im Gegensatz zu den kernsanierten Vierteln mit Zuckergussoptik à la Prenzlauer Berg, meint er. Vor Kurzem ist er erst von Friedrichshain an die Schönhauser Allee gezogen. Nicht ganz so beschaulich, etwas urbaner. Von Deylen bestellt Carpe Diem Kräuterlimonade. Er hat eine Schwäche für zuckerhaltige Getränke aus kleinen Glasflaschen. Vor allem das mit der Glasflasche ist wichtig.

Dann geht es weiter im Text. Hamburg sei eine solch saubere, fertige Stadt, erklärt von Deylen, der aus Visselhövede, einem kleinen Ort in der Lüneburger Heide stammt. Fünf Jahre hat er in der Hansestadt an der Alster gelebt, dann zog es ihn nach Berlin. „Hamburg strahlt dieses Gesetteled-Sein aus. Berlin dagegen ist permanent im Wandel. Wie ein Versprechen, das nie eingelöst wird“, sagt er. Deswegen ist er vor gut zehn Jahren in die Hauptstadt gezogen – und geblieben. Es sei die Umgebung, die ihn hier inspiriere, die Menschen, das Treiben auf der Straße, die Menschen, die hohe Fluktuation. „Berlin ist einfach ein guter Katalysator“, sagt er.

Und den braucht er für seine Arbeit. Denn von Deylen, der sich seit einem Heureka-Erlebnis beim Lesen von Friedrich Schillers „Lied von der Glocke“ schlicht „Schiller“ nennt, arbeitet immer, andauernd, ständig. Die Bezeichnung „Workaholic“ wertet er als Kompliment, Müßiggang ist ihm ein Fremdwort und sich phasenweise ein Nichtstun zu verordnen, empfindet er als anstrengend. Seine Arbeit sei seine Leidenschaft, floskelt er. Aber er meint es so. „Sicher kommt man manchmal an seine Grenzen. Aber das Leben beginnt da, wo die Komfortzone aufhört“, setzt er nach. Dass das eine binsige Weisheit ist, weiß von Deylen selbst.

Für "Opus" hat Schiller die Komfortzone verlassen.

Christopher von Deylen auf dem Fernsehturm am Alex.
Hinter dem Künstlernamen "Schiller" verbirgt sich Christopher von Deylen - und gerne guckt er vom Fernsehturm am Alex auf die Stadt.

© privat

Am 30. August erscheint sein neues Album: „Opus“. Für von Deylen, der seit über zwölf Jahren eine anerkannte Größe im Pool der Elektromusiker ist, ist diese achte Platte ein solches „Verlassen der Komfortzone“. Denn er wagt sich hier auf das für ihn bisher eher unbekannte Parkett der klassischen Musik. Er zitiert Themen von Tschaikowski, Rachmaninow oder auch Erik Satie. Klassik-Größen wie die Starsopranistin Anna Netrebko, der Oboist Albrecht Meyer oder die französische Pianistin Hélène Grimaud gastieren bei einigen Stücken. Und doch ist von Deylen weder bekennender Klassik-Fan, noch kennt er sich besonders gut aus: „Es ist wie bei jedem Genre: Entweder ein Stück berührt mich oder nicht. Ganz gleich ob Klassik oder Krautrock.“

Wochenlang hörte sich Christopher von Deylen durch das schier unerschöpfliche Klassik-Repertoire, bis er auf ein paar magische Momente stieß. „Solveigs Lied“ von Edvard Grieg war so ein Moment für von Deylen. Auf „Opus“ „borgt“ er sich diese bekannten Passagen, verfremdet sie, indem er ihnen das gewohnte Schillersche Elektrogewand überwirft, ohne die Melodien jedoch gänzlich zu dekonstruieren. „Ich wollte die emotionale Essenz der Stücke verstärken“, sagt von Deylen. Als „Klangarchitekt“ versteht er sich, nicht als Missionar. Schiller ist nicht ausgezogen, um die Musik neu zu erfinden. Vielmehr hantiert er mit dem, was schon da ist. Für manche klingt das dann in der Bilanz nach abgeschmacktem Elektropop. Für andere haben seine sphärischen Klangwelten etwas Episches. So oder so, in dem Moment, wo Musik ein Gefühl auslöst, hat sie für von Deylen ihre volle Berechtigung.

Ob er sich deswegen, angesprochen auf seinen Namensgeber Schiller, nicht viel eher der Empfindsamkeit als dem Sturm und Drang zuordnen würde? Nein, würde er nicht. „Es muss ja schließlich immer weitergehen“, sagt von Deylen. So hat er dann auch schon eine Lösung für sein drohendes Post-Album-Abgabe-Trauma: Er geht auf Tour.

Alles also, bloß kein Stillstand. So könnte dann auch der Treffpunkt im sich unaufhörlich drehenden „Sphere“-Restaurant im Fernsehturm am Alex rückblickend nicht besser gewählt sein. Ein bisschen kitschig vielleicht. Aber auch das hat seine Berechtigung in Berlin.

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