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Kultur: Chronik der Zerstörung

Als die Fotografie erfunden wurde, hatte der Brite William Henry Fox Talbot die ersten Negative auf edlem Papier entstehen lassen. Talbots Fotografien, die so genannten Talbototypien aus der ersten Hälfte des 19.

Als die Fotografie erfunden wurde, hatte der Brite William Henry Fox Talbot die ersten Negative auf edlem Papier entstehen lassen. Talbots Fotografien, die so genannten Talbototypien aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts faszinieren gerade durch die Materialität ihres Papierträgers, dessen matter Schimmer die Aura des längst Vergangenen trägt. Etwas von dieser Aura und dem Pioniergeistes der Fotografie atmen die neuen Arbeiten von Tacita Dean, denn die von ihr digital bearbeiteten Fotografien sind im Tiefdruckverfahren der Fotogravüre auf Papier übertragen worden. Die in Berlin und London lebende Künstlerin, unlängst mit einer Einzelausstellung in der Tate Britain gewürdigt, verleiht dem Vermächtnis Talbots aber eine überraschende Wende: Denn während die ersten Fotografien die Schönheit der Welt einfangen wollten, zeigt das Bildprogramm von Dean ein Szenario des Grauens: Naturkatastrophen, untergehende Schiffe, Mondlandschaften verwüsteter Schlachtfelder, gestrandete Wale, Beerdigungen, Explosionen und eingestürzte Brücken bilden ihr ikonografisches Gegenprogramm.

Das Bildmaterial lieferten Postkarten, die als Vorläufer der uns heute so vertrauten massenmedialen Formate der Sensationspresse oder TV-Boulevardmagazine erscheinen. Damals wie heute hat der Schrecken einen hohen Nachrichtenwert, ziehen uns Bilder in ihren Bann, die das Unglück anderer zeigen. Dean hat diese Postkarten auf Flohmärkten und Antiquariaten gefunden. Eine Auswahl dieser fotografierten Ereignisse, die alle aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stammen, hat sie mit Beschriftungen versehen und zu einer losen Narration der Desaster arrangiert (Serie aus 20 Blättern, Auflage 35, 15 000 Dollar).

Auch Talbot hatte in seiner berühmten Serie "The Pencil of Nature" die Kombination aus Fotografie und Schrift erprobt. Seinen an der malerischen Ästhetik orientierten Darstellungen von Landschaften und Kunstwerken scheinen im Verlauf auch auf die Inszenierung der dokumentarischen Fotografie nachgewirkt zu haben. Das Genre der Schreckensbilder hat eine nahezu klassische Typologie ausgebildet. So gestalten sich die Postkartenbilder der anonymen Fotografen in Deans Serie wie durchkomponierte Historienbilder oder Bühnenbildentwürfe zu Wagneropern. Die Aufnahme eines gestrandeten Wals zeigt das verendete Tier in bildfüllender Diagonale, das trübe Wetter und die dunklen Gestalten im Hintergrund lassen die eingefangene Atmosphäre wie das Standbild einer Verfilmung von Melvilles "Moby Dick" erscheinen. Diese narrative Dichte macht sich die Künstlerin kongenial zu eigen, indem sie die Fotografien als Schlussbilder imaginärer Filme verstanden wissen möchte. Der Titel "The Russian Ending" bezieht sich dabei auf den Umstand, dass die Endsequenzen westlicher Filme speziell für den russischen Filmmarkt neu gefasst wurden.

Ihre handschriftlichen Kommentare, die teilweise den Text der Rückseiten der Grußpostkarten aufnehmen, überführen die Ereignisse aus der Starre des Vergessens in einen neuen Sinnzusammenhang. Sie zeigen Begebenheiten, zu denen niemand mehr eine Geschichte erzählen kann und die so lange stumm bleiben, bis Tacita Dean sie in ihren eigenem Text einschreibt und so für ihre Zwecke in Besitz nimmt. Das Bild allein verweigert sich dem Verstehen. Dieses Vakuum macht sich Dean zunutze, indem sie die gefundenen Fotografien zu dramatischen Sinnbildern einer Welt gerinnen lässt, deren Chronik sich aus Tragödien der Gewalt und Zerstörung zusammensetzt.

Die kruden, erstarrten, nur noch halb verständlichen, beinahe archaischen Restbestände von Kultur verdichten sich zu Allegorien eines Jahrhunderts, dessen grandiose Trümmerspur eine Geschichte des Scheiterns menschlicher Vernunft beschreibt. Technik und Fortschritt offenbaren ihr janusköpfiges Antlitz in unwirtlichen Industrielandschaften, zerstörten Städten und im geborstenen Eisen. "The Russian Ending" zeigt den Blick auf die Vergangenheit, die sich als Ansammlung namenloser Katastrophen präsentiert. Katastrophen, die keiner mehr kennt, und Dean lässt sie als Filmstills, als Standbilder, zu einer flüchtigen Konstellation aus sprachlosem Schrecken gerinnen, der das Grauen der Geschichte ins Gesicht geschrieben ist. Wer ihr ins Gesicht blickt, erstarrt in Faszination.

Matthias Mühling

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