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Claudia Michelsen über Dresden: Meine Stadt, meine Straße, mein Turm

Dresden, DDR, Tal der Ahnungslosen – Uwe Tellkamp hat darüber einen Bestseller geschrieben. Claudia Michelsen ist hier aufgewachsen und spielt nun in der Verfilmung mit. Ein Stadtspaziergang.

Da steht er nun. „Ich dachte, der ist weg“, sagt Claudia Michelsen. Dreht sich um, lächelt überrascht und guckt noch mal auf das steinerne Zeugnis ihrer Kindheit: einen Elefanten. Besser gesagt, eine Rutsche für Kinder, als Rüsseltier entworfen – am Hinterteil führen Treppen auf den Buckel, von dem die Kinder über den Rüssel hinunterrutschen. Die Schauspielerin schwingt sich auf die Stoßzähne, Probesitzen, es ist ein wenig kalt. „Hier habe ich früher immer mit der Christine gesessen“, erzählt sie. Christine, das ist die beste Freundin, Klassenkameradin, Tochter des Schauspielers Rolf Hoppe, heute Schauspielerin am Dresdner Schauspielhaus, einen Tag vor der Einschulung kennengelernt – und sie sind „seitdem unzertrennlich“.

Alles, was nicht in der Schule erzählt werden konnte, hier auf den blank gesessenen Stoßzähnen kam es zur Sprache. Welcher Lehrer ist blöd? Welcher Junge sieht gut aus? Gespräche, wie sie auch in Wanne-Eickel oder Flensburg klingen konnten, aber es war eben hier: im Innenhof eines Nachkriegs-Neubaus nahe des Dresdner Rathausturms, in den 70er Jahren, als die sächsische Stadt so abgeschirmt von westdeutschen Fernseh- und Radiosendern war, dass sie „Tal der Ahnungslosen“ hieß.

Auch von dieser Isolation erzählt Uwe Tellkamp in seinem Roman „Der Turm“ – seine fiktive Familie lebt auf der anderen Elbseite im Stadtteil Weißer Hirsch, Bürgerliche in einem sozialistischen Land, die sich zu arrangieren versuchen, um zu überleben. So ergreifend war diese Geschichte, dass sie ein riesiger Erfolg und nun für die ARD verfilmt wurde.

Die Mutter Anne Hoffmann, die alles zusammenhält, die spielt in der zweiteiligen Fernsehverfilmung Claudia Michelsen, 43, die gebürtige Dresdnerin, die fast nie oben auf dem Weißen Hirsch war. „Wir sind mal mit der Standseilbahn hochgefahren und dann wieder runterspaziert“, sagt sie. Ein Fixpunkt ihres Lebens war und ist die Villengegend nicht.

Da gibt es andere. Im Schnelldurchlauf sind das: der Altmarkt, in dessen Nähe sie als Kind lebt. Das Dresdner Schauspielhaus, in dem sie den jungen Sylvester Groth als „Don Carlos“ bewundert. Dann Berlin, die Schauspielhochschule „Ernst Busch“, an die sie mit 16 Jahren geht. Die Volksbühne unter Frank Castorf, an der sie Erfolge feiert. Der Strand in Malibu, an den sie dem Regisseur Josef Rusnak mit Mitte 20 folgt. Berlin nach

der Jahrtausendwende, wohin sie nach der Trennung von ihm zurückkehrt. Und zwischendurch immer wieder ein Wald in der Nähe von Dresden, aus dessen Nähe der mütterliche Teil der Familie stammt.

Claudia Michelsen lebt wieder in Berlin, zusammen mit dem Schauspieler Anatole Taubman (ein Bösewicht aus dem letzten Bond-Film „Ein Quantum Trost“) und zwei Töchtern. Sie ist gut beschäftigt im Fernsehen, spielt in der ZDF-Serie „Flemming“ die weibliche Hauptrolle. Und nun die Mutter in „Der Turm“.

Wie sie da einmal ihren untreuen Ehemann, dargestellt von Jan Josef Liefers, mit einer einzigen kleinen Bewegung wegschnipst, den Kopf von ihm abgewandt, wie sie alles sagt mit der linken Hand, das ist die schwierige Einfachheit, wie sie nur wenigen Schauspielern gelingt. Für ihre Darstellung wurde sie vergangene Woche für den Hessischen Filmpreis nominiert.

Russische Schriftsteller und Fassbinder-Filme

Die Laufbahn begann hier, in diesem Neubauhof in Dresden, auf dem die Bäume an diesem Septembertag viel größer sind als vor 30 Jahren. Claudia Michelsen unternimmt einen Spaziergang, auf dem sie ihr Dresden zeigen will – und ihr Finger richtet sich zuerst auf eine Wohnung in der vierten Etage, drei Zimmer, Küche, Bad. „Da habe ich mit meiner Mutter und dem Michelsen gewohnt“, sagt sie. Ihre Eltern trennten sich, als sie erst ein paar Monate alt war, der Michelsen, der dritte Mann der Mutter, wurde zur prägenden Vaterfigur, von ihm hat sie bis heute den Namen. Der Michelsen, ein Seemann der Handelsflotte, „der hat alles selbst gemacht“: Tische, Regale, Schränke. „Sogar historische Waffen, Pistolen mit Messingbeschlag, hat der nachgebaut und an die Wand gehängt.“

Das Kinderzimmer von damals sah so aus: „Eine Wand mit dunkelbrauner Farbe selbst angestrichen. Das war damals Mode. Klingt heute grauenhaft.“ Und in dieser Höhle gab es Bücher, Bücher, Bücher. „Meine leseintensivste Zeit“, sagt sie. Zuerst die Märchenbücher des russischen Schriftstellers Alexander Wolkow, mit zwölf entdeckt sie Lessing, Strindberg, später Genet.

Im Rückblick, sagt sie, sei sie dankbar für die Insellage der Stadt. „Natürlich wollten wir mal West-Fernsehen gucken und bessere Radiosender hören.“ So blieb es bei den Kinderfilmen am Samstagnachmittag, der „Flimmerstunde“ auf DDR 1 und den alten Ufa-Streifen am Montagabend, „Willy Schwabes Rumpelkammer“. „Ich bin mit Theo Lingen und Hans Moser aufgewachsen“, sagt Claudia Michelsen. Donnerstags, da ist sie schon 13 oder 14, hockt sie abends vor ihrem Kassettenrekorder, hört Radio DDR und wartet auf die „Musikalische Luftfracht“ – eine Sendung, die auch mal Lieder jenseits der ostdeutschen Musikbeglückung spielt. „Da hab ich Musik aufgenommen, die sonst nicht lief: Rolling Stones, Status Quo, Supertramp.“

Dann gab es den Nachbarn, „den Gerald“, Solotänzer an der Dresdner Oper. Er kannte Schauspieler und Theaterleute. „Mit ihm war ich eng befreundet“, erzählt sie. Dass der älter war als sie mit 14, hat damals keinen gestört. Gemeinsam sahen sie sich Filme von Fassbinder an. „Für mich öffneten sich völlig neue Welten. Wie weit der in seinen Filmen ging, wie ungeschönt er Realität zeigte. Solche Filme gab es in der DDR nicht. Für mich ein wichtiger Impuls.“

Weiter geht es zur Frauenkirche, fünf Minuten zu Fuß in Richtung Elbe. Claudia Michelsen erzählt von den Trümmern, die nach dem Krieg liegen blieben, und wie sie sich nicht vorstellen konnte, dass daraus einmal wieder eine Kirche erwächst. „Die Frauenkirche in ihrem zerstörten Zustand fand ich als Mahnmal beeindruckend.“ Jedes Jahr am 13. Februar ging sie wie viele andere Dresdner mit Freunden zum verrußten Schutthaufen. Sie trugen Kerzen in der Hand, Jugendliche, Ältere, Familien, sie kamen unaufgefordert zu diesem Ort des Schreckens und erinnerten an die Zerstörung der Stadt durch alliierte Bomben 1945.

„Meine Großmutter erzählte, wie sie nachts die Flammen von Dresden gesehen hat, in ihrem Dorf 60 Kilometer entfernt, wie die Stadt glühte, bis zum Himmel hoch. Sie erzählte, dass die Elbe gebrannt hat. Die Menschen haben sich in das Wasser gestürzt, der Fluss war aber so voll mit Kerosin, dass er nicht mehr löschte. Das war immer meine Horrorvorstellung als Kind: ins Wasser zu springen und dabei zu verbrennen.“ Ihre Großeltern waren für den Wiederaufbau, Claudia Michelsen zuerst nicht. Jetzt findet sie das Ergebnis doch schön: dass man die alten Steine an dem Ruß erkennt, dass die Kirche wie ein riesiges Puzzle aussieht.

Rechts vorbei an dem Wahrzeichen biegt die Schauspielerin zur Kunstakademie ein. „Hier gab es mal einen kleinen Laden für Malerbedarf, das war für Christine und mich wie eine Fundgrube. Wir liebten es, hier Papier, Stifte, alles Mögliche zu kaufen und damit zu Hause zu malen. Aber für die Malerei hatte ich kein Talent.“

Hoch geht es die Treppen zu den Brühlschen Terrassen, ein junges Paar küsst sich gerade für die Kamera. Ein Touristenort, ja, aber auch einer, den die Dresdner lieben. „Eine Weite mitten in der Stadt“, sagt Michelsen über den Blick auf den Fluss und die breiten Uferwiesen. Sie biegt nach links ab, Richtung Semperoper. Die Augustusbrücke führt hinüber zur Dresdner Neustadt, wo die Schauspielerin zu DDR-Zeiten kaum war. „Sie war schon sehr verfallen.“ Dass Dresden nach der Wende dort einen Neuanfang nahm, findet sie großartig. Die Bars, Kneipen, Clubs und neuerdings die Galerien. Die Galerie der Gebrüder Lehmann an der Görlitzer Straße kann sie empfehlen, moderne Kunst mit einer Dependance in Berlin, oder die Galerie Baer in der Louisenstraße.

Über die Brücke erzählt sie noch eine Anekdote. Die Stadtoberen tauften sie nach dem Krieg in Dimitroffbrücke um, benannt nach dem bulgarischen Kommunisten, der im Prozess um den Reichstagsbrand berühmt wurde. Weil niemand in der Stadt den neuen Namen liebte, aber viele den ursprünglichen Namenspatron August den Starken, erfanden die Dresdner eine Legende. Angeblich sei der Kurfürst mit der Kutsche über die Brücke gefahren und habe bei jedem hübschen Mädchen gesagt: „Die mit ruff, die mit ruff.“

Wenn Claudia Michelsen das erzählt, hört man die weiche sächselnde Färbung, gar nicht mehr das Hochdeutsch der Theaterbühne. „Claudia mit d“, so stellte sie sich als Kind überall vor, weil t und d im Sächsischen ähnlich klingen. Später, als sie darüber sinniert, in welchem DDR-Western Gojko Mitic mitgespielt hat, sagt sie plötzlich: „Jetzt mach müsch nüsch färtsch!“

Sie geht durch den Zwinger. „Das ist ja wie eine Völkerwanderung“, sagt Michelsen. Spanische, englische, deutsche Reisende gruppieren sich um Aufpasser, die Wimpel schwenken. Stolz ist sie darauf. „Immer wieder, wenn auch in großen Abständen, besuche ich die Sixtinische Madonna in der Gemäldegalerie.“

"Wir waren Theaterkinder"

Durch das berühmte Kronentor nimmt sie die Abkürzung zum Schauspielhaus, der Stätte, an der ihre Theaterleidenschaft entfacht wurde. Das Haus ist weiß gestrichen, hat rote Dachziegel und einen frisch renovierten Bogengang zur Zwingerseite hin. Mit Christine stand sie hunderte Male hinter der Bühne des Jugendstilbaus. „Wir waren Theaterkinder.“ Dutzende Male hat sie „Nachtasyl“ und „Der Biberpelz“ gesehen, hat hinter dem roten Vorhang gestanden. „Am Anfang war ich fasziniert davon, wie ein Stück entsteht, welches Handwerk es drum herum gibt – Kulisse, Masken, Dramaturgie.“ Der schönste Moment? „Wenn der riesige Vorhang nach der Sommerpause wieder aufging und plötzlich dieser Geruch von altem Holz und Staub durch den Zuschauerraum wehte.“

Sie nickt. „Damit hat es angefangen.“ Sie guckte sich jedes Stück an, fieberte mit, wenn einer auf der Bühne sagte: „Da geh’n wir halt rüber.“ Wie jeder im Publikum dachte sie an den Westen, es gab eine stille Übereinkunft zwischen Machern und Zuschauern, dass zwischen den Zeilen etwas mitschwang, was außerhalb des Saales niemand laut sagen durfte. „Alles hatte einen politischen Bezug“, sagt Michelsen. Und wurde deshalb von den Menschen aufgesogen. „Da wollte ich dabei sein.“

Im Foyer ist um diese Uhrzeit niemand, es ist fast Mittag, die Garderobe verwaist – und zwei Angestellte werfen einen gelangweilten Blick hinüber. Er könnte sagen: Ja, was denn nu? „Die Dresdner sind mir mit ihrer Ruhe und ihrem ausgebremsten Tempo sehr angenehm. Wenn ich jemanden nach einer Straße frage, dann erklärt er mir das so lange, bis er sich wirklich sicher ist, dass ich gut an mein Ziel komme“, sagt Claudia Michelsen. „Oder sie holen drei andere Leute dazu, wenn sie die Straße nicht kennen. Niemand sagt: Keine Ahnung.“

Sie geht nun den Postplatz hinunter, ein Stück weiter führt die Prager Straße zum Bahnhof hinauf. „Da stand die Blechkiste“, sagt sie – und meint das DDR-Kaufhaus mit der Loch-Fassade. „Und das Rundkino natürlich“, erinnert sie sich. Heute schießen James Bond und Agent Bourne auf den Leinwänden, früher hat Claudia Michelsen hier französische Filme gesehen. „Ganz oft Zorro mit Alain Delon, das war als Kind mein Lieblingsfilm und Delon mein Schwarm.“ Sie gluckst, sagt „Schwaaaarm“, um die Ernsthaftigkeit abzuschwächen, und grinst. Ostalgie, nein. Nostalgie, aber sicher doch.

Sie ist nun wieder in ihrem alten Viertel, nahe des Rathauses, wo ihr Großvater im Tiefbauamt gearbeitet und sie sich als Kind ihr Essen beim Pförtner abgeholt hat. Ihr fallen die abschreckenden Gerüche der Schulspeisung ein, dieses Übereinander von Bohnerwachs und Großküchenmief. „Das ist für mich DDR“, sagt sie. Aber eben auch der Geruch des Intershops. Nach der Schule ging sie mit Christine manchmal hinein, im Gewandhaus, wo heute ein Vier-Sterne-Hotel ist. „Einfach nur, um mal Westen zu riechen, diesen merkwürdig süßen Duft.“ Wenn sie mal eine D-Mark von Besuch aus dem Westen erhielt, wählte sie vorsichtig aus, was sie nehmen könnte. „Weiße Luftschokolade. Das war wie Weihnachten!“

Gleich dahinter ragt die Kreuzkirche in den grauen Dresdner Himmel. Wenn die junge Claudia sich mal schlecht fühlte, setzte sie sich in eine Kirchenbank und dachte nach. Nicht weil sie christlich gewesen wäre, sondern weil sie die Stille des Ortes und die Architektur mochte. War dann alles wieder besser, lief sie hinüber in den Elefantenhof, klingelte bei der besten Freundin – und Christine und Claudia setzten sich auf die Stoßzähne des steinernen Elefanten. Zwei Mädchen, die über die wichtigen Dinge des Lebens quatschten: Jungs, Eltern und vielleicht ein bisschen Lessing zwischendrin.

„Der Turm“ wird am 3. und 4. Oktober um 20.15 Uhr in der ARD gezeigt.

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