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Erinnern an frühe Sonntagsseiten: Ein Auszug aus Olivier Schrauwens „Der Mann, der seinen Bart wachsen ließ“.

© Reprodukt

Comic-Analyse: Zurück in die Zukunft

Bei Literaten heißt es, sie hätten ihren Goethe oder Schiller gelesen, wenn sie sich mit den Traditionen ihrer Zunft auskennen. Und bei Comiczeichnern? Felix Giesa über Bastian Vivès, Olivier Schrauwen und Bildgeschichtentraditionen.

Kürzlich sind zwei Comics auf dem deutschsprachigen Markt erschienen, die äußerlich scheinbar keine Gemeinsamkeiten aufweisen. Dennoch einigt sie eine beeindruckende Gegenwärtigkeit – man kann sich kaum vorstellen, dass einer der Titel vor zehn Jahren erschienen wäre. Und dabei sind sie trotzdem tief in der eigenen Tradition des Erzählens in Bildern verwurzelt. Beide sind somit ein Zeichen für das enorme Selbstbewusstsein gegenwärtiger europäischer Comics, dem doch immer wieder die Innovationskraft abgesprochen wurde. Der mit 28 noch sehr junge Zeichner Bastien Vivès hat mit „Polina“ seine nunmehr dritte Soloarbeit vorgelegt. Bei Kenntnis aller Arbeiten – und auch der gemeinsamen mit Merwan Chabane – fällt direkt die Wandelbarkeit der bildnerischen Komponente ins Auge. Keine seiner Arbeiten ähnelt graphisch der anderen. Fast schon traditionell am franko-belgischen Album geschult war „Der Geschmack von Chlor“, nur eben erzählerisch weit davon entfernt; „In meinen Augen“ fiel danach weniger durch die weichen Buntstiftzeichnungen auf, als erneut durch die Erzählhaltung, die nur einen konsequenten Blick durch die Augen des Erzählers erlaubte.

Freies Oszillieren der Linienführung

In „Polina“ nun fehlt jegliche Farbe, dunkle, teils schwarze Linien konturieren die Entwicklungsgeschichte um eine Ballerina, die nur aus Verehrung durch den Zeichner denselben Namen wie die berühmte Tänzerin am Berliner Staatsballett trägt. Es scheint nun, dass Vivès für jede seiner Geschichten einen immer neuen, vermeintliche passenden Strich parat hat – seine Polina und ihre Mittänzer erinnern in ihrer Bleiche der Comicseite an antike Statuen, mit denen sie ihre zeitlose Schönheit teilen. Unterstützen würde die These der Wandelbarkeit, dass man bei der Lektüre immer eines eigenen Tons gewahr wird, Vivès mag jeweils unterschiedlich zeichnen, jedoch bleibt sein Erzählen unverkennbar.

Oszillierend wie Rodolphe Töpffer: Eine Seite aus Bastien Vivès' „Polina“.
Oszillierend wie Rodolphe Töpffer: Eine Seite aus Bastien Vivès' „Polina“.

© Reprodukt

Dennoch scheint der Kern seiner variablen Zeichnungen zumindest auch anderswo zu liegen. Vivès experimentiert mit der Kunstform Comic, er lotet ihre Potentiale aus, sucht ihre Grenzen und rückbesinnt sich auf Vergangenes. Der Künstler und Mystiker des Visuellen Alexander Roob vermutete einmal, dass es Rodolphe Töpffer war, der mit dem freien Oszillieren seiner Linienführung eine ungebundene visuelle Erzählform etablierte. Die Bildgeschichten dieser Tradition könnten noch spontan sein, ihre Nachfahren seien schon zu stark vom Film beeinflusst. Es ist zumindest einen Gedanken wert, dass Bastien Vivès auf eine Befreiung des Comics in genau diese Richtung aus ist. Nicht nur Chris Ware oder auch Art Spiegelman in seinem „Im Schatten keiner Türme“ entdeckten in einem als archäologisch zu bezeichnenden Prozess in den frühen Comics die Form, um ihre Geschichten zu erzählen. Befände sich Vivès entsprechend noch auf der Suche nach seinem Stil, viel Überraschendes und Wunderbares käme auf uns zu.

Surreale Allegorien unserer heutigen Medienzeit 

Ein Zeichner, der in der Rückbesinnung auf Traditionen definitiv seine Form gefunden hat, ist der Niederländer Olivier Schrauwen. Den bunten, expressiven Seitentableaus seiner Kurzgeschichten im Album „Der Mann, der seinen Bart wachsen ließ“ steht man als unbedarfter Betrachter erst einmal ratlos gegenüber und mag sich fragen, in welche menschlichen Abgründe man dort blickt. Große, wie gewachsen scheinende Seitenarchitekturen erinnern an frühe Sonntagsseiten; dann wiederum finden sich Ornamente des Jugendstils; und schließlich sind manche Außenlinien figürlich, als Dämonen etwa, gefasst und knüpfen so an die Traditionen der Aufklapp- und Spielbilderbücher an.

Doch sind diese illustratorischen und gestalterischen Strategien natürlich nicht spielerischer Selbstzweck des Künstler – was nicht heißen soll, dass sie nicht spielerisch anmuteten – nein, Schrauwen bedient sich der Geschichte, der erzählerischen wie der zeichnerischen, um zeitlose menschliche Dilemma auszuloten. Seine Figuren und Welten sind um die Wende des 19. Jahrhunderts angesiedelt, so begegnen wir  kolonialen Afrikaforschern oder Männern eines suspekt anmutenden Bundes, doch die Handlungsverläufe, die Probleme und Katastrophen, sind surreale Allegorien unserer heutigen Medienzeit. Dass seine letzte Geschichte des Bandes das auch explizit macht, verwundert da kaum.

Zwischen Tradition und Erneuerung: Die Covermotive der beiden besprochenen Bände.
Zwischen Tradition und Erneuerung: Die Covermotive der beiden besprochenen Bände.

© Reprodukt

Der Comic, der in seiner neuen, anerkannten Form als Graphic Novel zwar wieder größere Aufmerksamkeit genießt, kann dennoch nicht verbergen, dass ihm innovative Potentiale abgehen. Das Erzählen, inhaltlich-thematisch wie visuell, basiert letztlich nur auf einer verlängerten Form des Hefts, des Albums. Nicht von ungefähr sind eine Vielzahl Graphic Novels gesammelte Ausgaben von Heftserien und ähnlichem. Die nun anerkannte Form auch erzählerisch-strukturell neu und immer neu zu füllen, dass wird für die heutigen Zeichner die spannende Herausforderung. Für uns Leser wird der Prozess nicht minder spannend zu beobachten sein.

Bastien Vivès: Polina, Reprodukt, aus dem Französischen von Mireille Onon, Handlettering von Dirk Rehm, 208 Seiten, 24 Euro. Olivier Schrauwen: Der Mann, der seinen Bart wachsen ließ, Reprodukt, aus dem niederländischen Flämisch von Helge Lethi, Handlettering von Olivier Schrauwen, 112 Seiten, 24 Euro.

Unser Gastautor Felix Giesa ist Redakteur bei satt.org.

Felix Giesa

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