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Furchtlos: Die kleine Gweny weiß, wie man mit Piraten umgeht.

© Reprodukt

Comic-Groteske: Ein Skandinavier in der Karibik

„Die Insel der 100.000 Toten“ schaut aus wie ein Piratenabenteuer, doch der Anschein trügt: Jason und Fabien Vehlmann erzählen mit trockenem Humor von entlaufenen Vätern, nüchternen Henkern, einem unglücklichen Internatsschüler und einer cleveren Göre.

Schon immer waren Inseln in der Literatur die Heimat der Utopie – im positiven wie negativem Sinne. Die Grenzen zwischen idealer Gesellschaft und isolierter Diktatur sind dabei fließend, wie die Comic-Künstler Jason („Ich habe Adolf Hitler getötet“) und Fabien Vehlmann („Jenseits“) in ihrem jüngsten Werk „Die Insel der 100.000 Toten“ zeigen: Eine mit tiefschwarzer Ironie erzählte Mischung aus Familiendrama, Piratenabenteuer und Liebesgeschichte, die sich keinen Augenblick Mühe gibt, ein Familiendrama, ein Piratenabenteuer oder eine Liebesgeschichte zu sein.

Das Mädchen Gweny findet eines Tages am Strand eine Flasche: Sie enthält eine Karte der Insel der 100.000 Toten, einer legendären Schatz-Insel, zu der ihr Vater vor einigen Jahren aufgebrochen und nie wieder zurückgekehrt ist. Kurzerhand beschließt sie, das Eiland aufzusuchen und ihren Vater wiederzufinden. Furchtlos stiefelt Gweny in die nächste Kneipe und heuert eine Piratencrew für ihr Vorhaben an. Dass die sie später über Bord schmeißen werden, ist ihr von vornherein klar, doch die abgeklärte Göre weiß genau, was sie tut. Nach der Ankunft auf der Insel merken die Schatzsucher schnell, dass etwas nicht stimmt: Gweny und einer der Piraten betreten die Insel alleine, der Rest der Mannschaft wird im Dschungel von mysteriösen Kapuzenträgern gefangen genommen und in eine Henker-Schule gebracht…

Piraten-Groteske ohne schrille Töne

Dass bei Jason aus dem Piraten-Sujet kein Genre-Comic wird, war vorherzusehen: Der aus Norwegen stammende Zeichner und dreifache Eisner-Award-Preisträger entwickelt gemeinsam mit dem französischen Szenaristen Fabien Vehlmann eine groteske Geschichte, die mit Piraten-Klischees und Motiven aus Adoleszenz-Roman und Gefängnis-Drama spielt. Sogar Franz Kafkas „In der Strafkolonie“ könnte als mögliche Inspiration gedient haben: Auch hier verschlägt es den Protagonisten auf eine unbekannte Insel, die von einem absurden System beherrscht wird, in dem Schuld und Unschuld nur bürokratische, letztlich sinnlose Begriffe sind.

Erzählt wird das alles ohne jede Dramatik oder große Effekte, doch merkwürdigerweise macht gerade die statische Stimmung des Comics seinen Hauptreiz aus: Inmitten von Folter, Kämpfen und Katastrophen werden absurd sachliche Dialoge geführt, skandinavische Lakonie trifft auf karibische Kulisse. Nicht selten erinnert der Ton von „Die Insel der 100.000 Toten“ an den tiefschwarzen Humor dänischer Filmkomödien, über den man eigentlich gar nicht lachen kann – ein Humor, der nicht von semantischen, sondern von atmosphärischen Pointen lebt.

Schnörkellose Eleganz

Familiendrama, Piratenabenteuer und Liebesgeschichte: Das Buchcover.
Familiendrama, Piratenabenteuer und Liebesgeschichte: Das Buchcover.

© Reprodukt

Auf den ersten Blick scheint der Comic aus vielen konträren Elementen zu bestehen, dennoch wirkt er äußerst homogen. Dieses Verdienst liegt eindeutig bei Jason, dessen wunderbare  Zeichnungen das ganze Geschehen mit Leichtigkeit zusammenhalten: Die im strengen Ligne-Claire-Stil gehaltenen Bilder sind hervorragend koloriert und allein die grafische Eleganz der anthropomorphen Tierfiguren ist ein Genuss. Jasons Bildersprache ist dabei niemals doppelbödig, es gibt keine Schnörkel, keine Insider-Details, keine Metaebene, nur die einsame Insel.

Jasons dritte Reprodukt-Veröffentlichung ist ein weiteres Highlight seines bisherigen Schaffens und kann Freunden der Trondheim-Serie „Donjon“ oder der isländischen Kult-Cartoons „Finden sie DAS etwa komisch?“ ebenso empfohlen werden wie Fans von skandinavischen Filmen à la „Dänische Delikatessen“.

Jason, Fabien Vehlmann: Die Insel der 100.000 Toten, Reprodukt, aus dem Französischen von Mireille Onon, Lettering von Minou Zaribaf, 56 Seiten, 15 Euro

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