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Erklär mir die Welt: Eine Seite aus „Ikon“.

© Avant

Comic „Ikon“ von Simon Schwartz: Heilige Hochstapelei

Zu spät wagt Simon Schwartz in „Ikon“ den Sprung von der Klippe. Der Comic über einen Guru, der in einer psychisch Kranken die Zarentochter Anastasia erkennen will, offenbart erzählerische Defizite und nervt mit stümperhaften Dialogen.

Mit ein paar Abstrichen hätten die letzten 40 Seiten von „Ikon“ Teil eines richtig guten Comics sein können. Der Hamburger Autor Simon Schwartz lässt im Endspurt seines Buchs Grenzen einstürzen: zwischen Realität und Einbildung, Gegenwart und Vergangenheit, Lüge und Erinnerung. Die verschiedenen Handlungs- und Erzählebenen verwirbeln, kollabieren, kollidieren, lösen sich zu einem prachtvollen Nichts auf. Statt Antworten zu liefern, springt der Schluss surreal von der Klippe, und das durchaus gekonnt.

Dass die 150 Seiten, die diesem geplanten ästhetischen Kollaps voranstehen, leider Teil eines weit weniger guten Comics sind, lässt sich schon rein mathematisch beziffern: Sie bestehen aus 23 Episoden, die zwischen 13 Zeitebenen von 1916 bis 1971 hin und her springen.

Abzüglich einiger Rückblenden und lexikaler Erklärtafeln ergeben sich so pro Abschnitt noch knapp sechs Seiten. Für einen Meister der Erzählkunst, der seine Mittel beherrscht und mit Bedacht wählt, wäre das theoretisch sicher ausreichend, 23 mitreißende Szenen zu komponieren, die nebenbei die Handlung vorantreiben und in der Gesamtkonstellation dramaturgisch subtil und wohlüberlegt ineinander greifen.

In der Praxis ist es anders gekommen.

 Uninspiriertes Prozedere

„Ikon“ erweckt über weite Strecken den Eindruck, als habe Schwartz in seinem Bestreben, die Figuren durch die Einzelheiten jener biografischen Tatsachen zu schleusen, auf die er sich wieder einmal beruft, ganz vergessen, warum er ihre Geschichte überhaupt erzählen will. Das Prozedere wirkt eher pflichtschuldig denn inspiriert.

Gegenüber der in Deutschland noch immer überproportional beliebten Adaption „wahrer Begebenheiten“ ist Skepsis angebracht. Schließlich entbinden diese nicht nur davon, selbst eine interessante Geschichte erfinden zu müssen, sie verleihen dem Projekt auch einen Hauch von Wichtigkeit, ohne dass die Autoren dazu erst schöpferisch, erzählerisch oder handwerklich besonders auffallen müssten.

Zeitsprung: Eine Seite aus dem besprochenen Buch.
Zeitsprung: Eine Seite aus dem besprochenen Buch.

© Avant

Die in der kulturellen Hierarchie übergeordneten „wahren Begebenheiten“, mit einer entsprechenden Moral versehen, legitimieren die Graphic Novel schließlich in den Augen des Buchhandels und des Feuilletons, der Fachjurys und der Förderung. Den Verdacht des Trivialen, dem Comics nach wie vor ausgesetzt sind, widerlegen sie hinreichend. Der letzte Langcomic von Simon Schwartz, „Packeis“, erschienen vor sechs Jahren, taugt besonders gut als Anschauungsmaterial, wie diese Mechanismen funktionieren.

Wer, wie eben Schwartz, den deutschen Comicbetrieb nun trotzdem gerne um die nächste biografische Graphic Novel bereichern möchte, hätte sich allerdings auch, zugegeben, eine weniger interessante Vorlage dafür aussuchen können.

Der Plot von „Ikon“ dreht sich um zwei Schicksale: das der psychisch kranken polnischen Fabrikarbeiterin Franziska Schanzkowska, die für kurze Zeit irrtümlich für die 1918 ermordete russische Zarentochter Anastasia gehalten wird und diese Rolle fortan spielt; vor allem aber das Gleb Botkins, eines aus Russland in die USA emigrierten religiösen Gurus, der die echte Anastasia als Kind kannte und sie in der falschen wiedererkennen will. Die verwirrte Hochstaplerin dient dem auf Ikonen fixierten Botkin zunehmend als Projektionsfläche. Das Drama, von dem „Ikon“ erzählen will, ist das zweier schwer Traumatisierter, die zu willigen Komplizen darin werden, sich gegenseitig in ihren Selbsttäuschungen zu bestärken.

Zusammengeschusterte Dramaturgie, stümperhafte Dialoge

Eigentlich beste Voraussetzungen für die Tragik, die der Klappentext ankündigt, aber dieses Versprechen hält der Comic höchstens ansatzweise.

Die Dramaturgie von „Ikon“ wirkt mühsam zusammengeschustert. Die Zeitsprünge kaschieren notdürftig die Banalität der Nacherzählung: eine Zerstückelung des Erzählkörpers zur Unkenntlichmachung handwerklicher Defizite. Auch den einzelnen Szenen selbst mangelt es an inneren Spannungsbögen. Der Eindruck, dass dreidimensionale Akteure in Gesprächen und im Handeln eigene Absichten verfolgen, entsteht selten.

„Ikon“ enthält eine passabel umgesetzte dreiseitige Rückblende, in welcher die falsche Anastasia sich textlich ihre Vergangenheit zusammenfabuliert, während die Bilder zeigen, was wirklich vorgefallen ist. In einem international konkurrenzfähigen Comic wäre eine solche Strecke kaum der Rede wert. Das Stilmittel, die sogenannte „word/image irony“ oder Text-Bild-Schere, gehört seit Jahrzehnten zum Standardrepertoire des Mediums. Bei Schwartz hingegen muss das als Beleg besonderer Raffinesse herhalten.

Geschichte der Ikonenmalerei: Eine Doppelseite aus dem besprochenen Buch.
Geschichte der Ikonenmalerei: Eine Doppelseite aus dem besprochenen Buch.

© Avant

Das halbe Buch über ist Schwartz indes damit beschäftigt, sein Personal von A nach B zu manövrieren und ihm langweilige Infotexte in die Sprechblasen zu klemmen. Die Figuren müssen die dramaturgischen Mängel ausbaden: Andauernd stellen sie sich umständlich vor oder sagen stümperhafte Pseudodialoge auf, die in ihrer Erklärfunktion stilistisch so konturlos bleiben, dass sie kaum noch als Gespräche identifizierbar sind.

„Guten Tag, Alexander King vom LIFE-Magazin“, sagt Alexander King vom „Life“-Magazin. „Es freut mich, Sie endlich kennenzulernen, Reverend Botkin.“

„Nennen Sie mich bitte einfach Gleb Botkin“, sagt Gleb Botkin.

„Nun, Mr. Gleb Botkin“, sagt Alexander King vom „Life“-Magazin, „Sie haben vor wenigen Monaten offiziell ihre [sic] eigene Religion, die ‚Church of Aphrodite’ [sic] gegründet und dazu auch ein Buch veröffentlicht.“

„So ist es“, sagt Gleb Botkin. „Ich predige bedingungslose Hingabe an die Liebesgöttin Aphrodite.“

„Ich nehme an, dass Sie als russischer Emigrant russisch-orthodox erzogen worden sind“, sagt Alexander King vom „Life“-Magazin. „Haben Ihre traumatischen Erlebnisse während der Oktoberrevolution Sie dazu veranlasst?“

Nicht auszuschließen, dass durch die anhaltende Bestrahlung mit deutschen Graphic Novels inzwischen ein resistentes, auf widrigste Bedingungen konditioniertes Publikum erwachsen ist, das selbst im Angesicht solcher Wortwechsel nicht jedweden Lebenswillen fahren lässt. Der Rezensent ist nicht so hartgesotten.

(Die teils fehlerhafte Zeichensetzung und Kleinschreibung der Anrede in den zitierten Dialogstellen finden sich, wie an entsprechender Stelle angezeigt, so in der Quelle wieder. Auch das Korrektorat der Texte lässt, wie bereits in „Packeis“, zu wünschen übrig.)

Biedere Schulbuchprosa

Ähnlich demoralisierend lesen sich die insgesamt 14 Seiten, auf denen Schwartz in biederer Schulbuchprosa die Geschichte der Ikonenmalerei rekapituliert. Natürlich docken diese Einschübe thematisch jeweils an die Handlung an. Aufgrund der stilistischen Anonymität der Texte sowie der weitgehenden Abwesenheit erzählerischer Subtilität strapaziert Schwartz aber auch hier vor allem die Geduld. Dabei gehört es, wie er unter anderem in „Packeis“ beweisen konnte, eigentlich zu seinen Stärken, auch stilistische Kontraste zum Gewinn der Erzählung in seine Bildsprache zu integrieren. Durch die Überfrachtung mit mittelmäßigen Erklärstrecken bringt sich Schwartz selbst um diesen Vorteil.

Das Cover des besprochenen Bandes.
Das Cover des besprochenen Bandes.

© Avant

Wenn die ersten drei Viertel von „Ikon“ doch einmal überzeugen, dann allein auf der Bilderebene. Wie etwa die ersten Seiten beweisen oder die Sequenz, in der Botkin aus einem Kloster im Ural flieht und zu seiner Religion findet, kann Schwartz sich auf seine Bilder verlassen. Schade nur, dass er es so selten tut.

Und natürlich kommt auch „Ikon“ nicht ohne den fürs Genre der German Graphic Novel unerlässlichen Anhang aus, der die zugrunde liegenden Fakten noch einmal kompakt für die Nachwelt sortiert, um seiner didaktischen Informationspflicht gerecht zu werden. Einfach eine Comic-Geschichte erzählen und das mündige Publikum mit der Einordnung des Gelesenen alleine lassen, das darf offenbar nicht sein.

So verfliegt die Wirkung des nur für hiesige Verhältnisse gewagt offenen Klippensprungs am Ende rasch. Denn gleich im Anschluss, nach nicht einmal drei Seiten Anstandspuffer, schlägt die Stunde der „wahren Begebenheiten“, und alle Ungewissheit wird beseitigt.

 Simon Schwartz: Ikon, Avant-Verlag, 199 Seiten, 25 Euro

Marc-Oliver Frisch ist freier Comic-Kritiker und -Übersetzer und promoviert über Comics an der Universität des Saarlandes. Man kann ihm bei Twitter folgen.

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