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Leichtigkeit und Doppelbödiges in einem: Eine Szene aus Aisha Franz' "Shit is real".

© Reprodukt

Comic-Markt: Ein Hoch auf die deutsche Graphic Novel!

Die Vermarktung längerer Comics als Graphic Novels ist erfolgreich, provoziert aber auch Kritik. Unsere Autorin warnt vor Polemik und lobt das bisher Erreichte.

Im vergangenen Jahr klickte ich mich aus Neugier durch die Nominierungen für die Eisner Awards. Der Comic-Oscar! Wer es in diese Hitliste schafft, muss nicht nur gut, sondern exzellent sein, Avantgarde, wie es Will Eisners Arbeiten der 70er und 80er Jahre waren. Dachte ich. Dann machte ich mir den Spaß, in den Gewinner-Arbeiten zu blättern. Der Spaßfaktor nahm rapide ab. Keine Experimente, nirgends, weder erzählerisch noch grafisch. Der schwungvolle, detailverliebte Strich, die Verliebtheit in Action-Sequenzen, überhaupt die Konzentration auf Thriller, Action und das Übernatürliche - wie sehr der US-amerikanische Comic bis heute von Superhelden-Geschichten der 1930er geprägt ist, war mir bis dahin nicht klar. Und unter den Graphic Novels war zwar Gutes. Avantgarde? Nein.

Deutsche Comics und Graphic Novels sehen erfrischend anders aus. Es wird in Schabkarton gekratzt, in schwarzer Tusche oder Bleistift gezeichnet, farbige Guache verrieben. Die Liste ließe sich fortsetzen. Und erst die Genres! Amüsante Höllenfahrten ("Hotel Hades"), biografische Romane ("Irmina"), Reflektionen über den Einsatz in Afghanistan ("Wave and smile") und die nicht tot zu kriegenden Coming-of-age-Geschichten ("Vakuum") - wer sich einen Überblick verschaffen will, sollte vor allem eins mitbringen: viel Zeit zum Lesen.

Qualität statt glatte Optik

Insofern treffen Polemiken gegen "die Graphic Novel" (was immer das ist, eine zufriedenstellende Definition gibt es bis heute nicht) und "das Feuilleton" (wer immer dazugehört) nur wenig wunde Punkte. Bis auf einen: in Sachen Mut und Unbequemlichkeit ist noch Luft nach oben. Bei Verlagen, in der Comic-Kritik, bei Leserinnen und Lesern. Besser geht immer, wie ein bekannter Fußballtrainer mal angemerkt hat.

Differenzierter geht aber auch immer. Graphic Novels sind ein winziges Segment des deutschen Buchmarkts, verglichen mit dem Ausstoß an Romanen, auf deren Verkaufszahlen und vermeintlich hohes Niveau so neidisch geschielt wird. Vergessen wird, wieviel Schrott und Seichtheit monatlich auf den Markt kommt, wie wenig das Format hat, kommende Jahre zu überdauern. Unter deutschen Graphic Novels findet sich viel Gutes bis Großartiges, Mittelmaß selten, Schlechtes so gut wie nie. Zugegeben: Avantgarde oder Werke von Weltklasse bislang auch so gut wie nie. Aber Comic-Romane gibt es unter diesem Etikett hierzulande ja erst seit zehn Jahren (laut Oliver Ristaus Bilanz zur deutschen Graphic Novel).

Die recht kleine Comic-Szene hat also auch Vorteile. Wir werden vor Stuss bewahrt, weil die Lektorate, die Verlagsleitungen immer noch um die Anerkennung des Comics kämpfen, die ihm als erzählendes Medium zusteht. Sie wissen, was Qualität hat und entscheiden sich für sie, statt auf glatte Optik und Happy Ends zu setzen.

Kampf ums Überleben: Eine Seite aus „Die Verwerfung“.
Kampf ums Überleben: Eine Seite aus „Die Verwerfung“.

© Zwerchfell

Nur zwei Beispiele aus diesem Jahr: "Die Verwerfung" von Lukas Kummer und "Shit is real" von Aisha Franz. Gerade letztere wird wegen ihrer simplen bis schrammelig-unbeholfenen Bilder und der Konzentration aufs Private gern unterschätzt. Nur wirft bei ihr das Private immer die ganz großen Fragen auf: Was ist normal? Will ich wirklich, was ich will oder nur, weil andere es wollen? "Shit is real"-Hauptfigur Selma zerbricht beinahe an diesen Fragen, für die Tagträumerin löst sich die Grenze zwischen Fantasiertem und Wirklichkeit Schritt für Schritt auf. Irgendwann stürzt sie psychisch ab. Am Ende ist sie wie von Zauberhand geläutert. Ein Loch in der Geschichte, ohne Erklärung, mit einem guten Ende, das keines ist: im letzten Bild blickt Selma, scheinbar genesen und souverän, in den Sternenhimmel, umgeben von der Wüstenlandschaft ihrer Alpträume. Leichtigkeit und Doppelbödiges in einem - bei Aisha Franz funktioniert das fabelhaft.

Vor dem Lesen kommt das Leben

Lukas Kummer wählt in seinem Debüt den entgegengesetzten Weg. In "Die Verwerfung" ist alles eindeutig: die Gewalt, die Verrohung zweier Geschwister im 30jährigen Krieg, die pessimistische Haltung des Erzählers zu Menschlichkeit im Angesicht des Todes: es gibt keine. Sprachlich ist alles Gefühl getilgt, die Zeichnungen verzichten weitgehend auf Hintergrund und sind zu gleichen Teilen roh und aufs Notwendigste beschränkt. Hier greifen erzählerische wie grafische Mittel perfekt ineinander. So konsequent gegen das Unterhaltungsbedürfnis von Leserinnen und Lesern hat in der deutschen Graphic Novel noch niemand gearbeitet. Ein großer Wurf, mit Mitte Zwanzig.

Mit solchen Büchern landen Verlage, wenn sie Glück haben, Zufallsbestseller. Und wenn wir bei Graphic Novels von Bestsellern sprechen, dann im niedrigen fünfstelligen Bereich. Davon lässt sich auf Verlagsseite wie auf Seite von Autorinnen und Autoren allenfalls prekär leben. Dirk Rehm, Verlagsleiter bei Reprodukt, machte vor einigen Jahren publik, wie hoch sein Monatseinkommen ausfällt: 1600 Euro, vor Abzug der Steuern. Trotzdem steckte er zehn Jahre Arbeit in die deutsche Version von "Jimmy Corrigan". Angesichts solcher Dimensionen Verlegerinnen und Verlegern fehlende Experimentierfreude vorzuwerfen, ist schlicht realitätsfern. Was Dirk Rehm oder Anke Feuchtenberger mit ihrem "Mami Verlag", Johann Ulrich von "avant" oder das Gespann Dinter/Tauber/Wiegand mit dem Zwerchfell Verlag leisten - und das ist nur eine Auswahl -, ist Dienst an Interesse und Intelligenz von Autorinnen und Autoren, Leserinnen und Lesern: Talente fördern, den Blick erweitern, erfolgreiche Titel nachdrucken, um sperrige mit zu finanzieren. Ach ja, und etwas Geld verdienen. Denn vor Lesen kommt Leben.

Von Silke Merten

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