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Jahrhundertcomic: Eine Seite aus Chris Wares „Jimmy Corrigan“.

© Reprodukt

Comic-Veranstaltung: Striche, die die Welt bedeuten

Berliner Comic-Fans konnten sich glücklich schätzen: Anlässlich der deutschen Erstveröffentlichung von „Jimmy Corrigan“ kam es am Freitag im Martin Gropius Bau zu einem seltenen Zusammentreffen der Comic-Größen Scott McCloud und Chris Ware sowie des Illustrators Christoph Niemann.

Einfacher könnte ein Vortrag nicht beginnen: Ein langer horizontaler Strich ist auf der Leinwand zu sehen, darüber zwei kleine, die nebeneinander liegen. „Es könnte alles sein: Ein Horizont mit zwei Wolken oder drei Holz-Bretter“, sagt Scott McCloud, „aber sie alle haben in diesem Moment dasselbe gesehen: Zwei Augen und einen Mund“. Unsere Fähigkeit, dies zu erkennen, sei die Grundlage für das Funktionieren von Comics, so der berühmte Comic-Theoretiker.

Mit diesen drei simplen Strichen begann am Freitagabend das „Comic-Gipfeltreffen“, organisiert vom Internationalen Literaturfestival Berlin. Zu Gast im Martin Gropius Bau sind drei Schwergewichte unter den Zeichenkünstlern: Der US-Amerikaner Scott McCloud, der seit den Neunziger Jahren mit seinen Comic-Theoriebüchern – in Comicform – die Wahrnehmung der „neunten Kunst“ entscheidend beeinflusst hat („Comic richtig lesen“), das amerikanische Comic-Genie Chris Ware, dessen gerade auf Deutsch erschienenes Werk „Jimmy Corrigan“ als „Jahrhundertcomic“ gefeiert wird, und der aus Deutschland stammende Illustrator Christoph Niemann („Abstract City - Mein Leben unterm Strich“), der als Zeichner für „The New Yorker“, „Time“ oder die „New York Times“ arbeitet. Moderiert wird der von Carlsen, Reprodukt und der US-amerikanischen Botschaft unterstützte Abend vom FAZ-Comicexperten Andreas Platthaus.

Mehr als ein Comic-Vortrag

Den Anfang macht McCloud – der 53-Jährige hatte bereits am Vormittag vor 350 Berliner Schülern gesprochen. „Das Interessante ist eigentlich nicht das, was in den Bildern zu sehen ist, sondern der leere Raum zwischen den Panels“, sagt McCloud, „das ist die DNA des Comic, denn hier arbeitet die Imagination“. Zum Beweis stellt McCloud einige zufällige Fotos nebeneinander: Zwei Augen und ein Apple-Store, ein Telefon und ein Eichhörnchen – das Schmunzeln im Publikum verrät, dass jeder unwillkürlich Beziehungen zwischen den Bilder herstellt. „Ein Eichhörnchen, das auf einen Telefonanruf wartet - warum nicht?“, meint McCloud, „wir wollen diese Geschichten einfach finden“.

Comictheoretiker: Scott McCloud bei einer früheren Signierstunde.
Comictheoretiker: Scott McCloud bei einer früheren Signierstunde.

© Promo

McCloud hat die 200 Besucher im restlos gefüllten Kinosaal im Martin-Gropius-Bau schnell für sich eingenommen: Aufgeräumt und enthusiastisch wuselt der untersetzte Amerikaner im dunkel karierten Hemd immer wieder von einer Seite der Bühne zur anderen und illustriert seine Worte mit zahllosen Comic-Beispielen. Auch Katharina Göllner-Sweet, Kultur-Attachée der US-Botschaft, entfährt hin und wieder ein ehrliches „Wow“, obwohl sie im Grußwort zuvor erklärt hatte, eigentlich „ein Büchermensch“ zu sein.

Auch wenn die Präsentation aus mehr als 500 Bildern besteht, hat man zu keinem Zeitpunkt das Gefühl, mit Informationen bombardiert zu werden: McCloud schickt seine Zuhörer auf eine Gedankenreise und streift dabei fast unmerklich so sperrige Gebiete wie Kunsttheorie, Philosophie oder Kognitionswissenschaften. „Es ist ein Geburtsrecht des Menschen, sich ab und an in einer fiktiven Geschichte verlieren zu wollen. Und wer für kurze Zeit in die reduzierten Umrisse eines Comics eintaucht und wieder daraus zurückkehrt, kann die Umrisse der Welt, in der man lebt, danach besser erkennen.“ McCloud überträgt den Stil und den Ton seiner Comics perfekt auf seine Präsentation. Es ist nicht einfach nur ein Vortrag über Comics, sondern über Kunst, Kommunikation, Wahrnehmung und das Leben an sich.

„Ich ‚kannte’ McCloud vorher nur als Comic-Figur und hab ihn zum ersten Mal live gesehen“, sagt der 21-jährige Dokumentarfilmstudent Johannes Freese. „Ich fand ihn unterhaltsam und sehr amerikanisch, aber in ganz positivem Sinne. Er war sehr schlagfertig und hinterfragend.“ Auch andere Besucher sind angetan: „Das war phänomenal, einer der besten Vorträge, die ich jemals gesehen habe“, meint der 44-jährige Eike König. „Ich fand erstaunlich, dass genau den Gleichen vor Schülern gehalten hat – es war generationenübergreifend verständlich.“

Perfektionist mit Traditionsbewusstsein: Ware bei sich daheim in Chicago - samt Peanuts-Figuren.
Perfektionist mit Traditionsbewusstsein: Ware bei sich daheim in Chicago - samt Peanuts-Figuren.

© Promo

Ein introvertierter Perfektionist

Nach einer kurzen Signierstunde mit Scott McCloud scheint der Andrang zu dem Gespräch zwischen Chris Ware und Christoph Niemann noch größer zu sein als zuvor. Auch das Publikum hat sich leicht verändert: Viele Designstudenten sind gekommen, um den Mann zu sehen, der mit Comics wie „Jimmy Corrigan“ oder zuletzt dem experimentellen „Building Stories“ grafisch brillante Meisterwerke geschaffen und für seine Comicserie „ACME Novelty Library“, aus der Bücher wie die Genannten hervorgegangen sind, alle wichtigen Comic-Preise erhalten hat. Geschätzt wird Ware vor allem für seine an der Ligne Claire und an „Little Nemo“-Schöpfer Winsor McCay orientierten Zeichnungen, bei denen die Figuren oft wie in einem Kirchenfenster von starken Linien umrahmt werden. „Building Stories sieht mehr nach Comic aus, als irgendein Comics, den ich kenne“, lobte etwa Scott McCloud am selben Abend.

Vom Auftreten her ist Chris Ware so ziemlich das Gegenteil von McCloud: Der hagere 46-Jährige mit der grüblerischen Stirn über der Nickelbrille scheint sich zu Beginn in seinem Sessel zu winden und verschränkt die Beine in unbequemer X-Stellung. „Es ist schön, sie alle hier zu sehen, wie sie da alle nebeneinander sitzen und auf mich starren…“, begrüßt Ware das Publikum. Das ist nur halb im Scherz gemeint – man merkt Ware an, dass er es eigentlich nicht mag, vor großen Menschenmengen zu sprechen. Fast flüsternd spricht er seine Sätze in das Mikrofon, das er häufig mit beiden Händen umklammert hält.

Von Asterix und "Mad" inspiriert: Christoph Niemann.
Von Asterix und "Mad" inspiriert: Christoph Niemann.

© Jason Fulford/Promo

Ganz so verklemmt wie seine Figur Jimmy Corrigan, die sich in dem gleichnamigen Comic sehr zerbrechlich unter fremden Menschen bewegt, ist Ware jedoch nicht. Scharfzüngig und selbstironisch kommentiert der mehrfache Eisner-Award-Gewinner seinen eigenen Werdegang: „Ich habe zuerst dumme Superhelden-Comics gelesen. Einer meiner ersten Einflüsse, Zeichner zu werden, war ein Cartoonist in meiner Heimatstadt: Er hatte eine Glatze, einen Schnurrbart und ständig eine Zigarette im Mund. Er konnte einfach alles zeichnen.“ Christoph Niemann erzählt, zuerst Asterix-Fan gewesen zu sein, bis er auf das Mad-Magazin stieß: „Ich war total verrückt nach Mad und Don Martin.“ Ware nickt lächelnd. „Ich und alle meine Freund haben Zeichnungen aus Mad kopiert.“

Im Laufe des Abends lockert Ware etwas auf, wirkt jedoch stets bescheiden und demütig: „Als damals Art Spiegelmann fragte, ob ich in seinem Avantgarde-Magazin ‚Raw’ mitzuarbeiten wollte, war das wie ein Anruf von Gott.“ Bevor er jedoch Comic-Zeichner wurde, studierte Ware Malerei und Skulptur. „Malst du heute noch?“, fragt Moderator Andreas Platthaus. „Nein, ich glaube, ich bin der schlechteste Maler der Welt.“ Doch obwohl seine Zeichnungen so perfekt aussehen, als seien sie mit dem Computer gemacht, zeichnet Ware alles mit der Hand. „Eine Maus ist einfach nicht das gleiche wie ein Stift.“ Ware ist ein Perfektionist; nicht umsonst habe ihn die Arbeit an Jimmy Corrigan rund neun Jahre gekostet: „Man muss die Inspiration ergreifen und verdichten, solange, bis man die reine Essenz gefunden hat.“

Meisterwerk: Chris Wares "Jimmy Corrigan" wurde in der Kategorie "Bester nordamerikanischer Comic" für den "Peng!"-Preis vorgeschlagen.
Meisterwerk: Chris Wares "Jimmy Corrigan" wurde in der Kategorie "Bester nordamerikanischer Comic" für den "Peng!"-Preis vorgeschlagen.

© Reprodukt

So recht jedoch will sich zwischen den Gesprächspartnern kein flüssiges Gespräch einstellen und auch nach der Veranstaltung sind die Reaktionen gemischt: „Ich fand Chris Ware auf eine sehr gute Weise ehrlich“, findet die 24-jährige Christine Regan. „Es war unterhaltsam, aber wirkliche Einblicke in die Künstler hat man nicht wirklich bekommen“, sagt der30-jährige Designstudent Christian Koerbel. „Ware wirkte auf mich, als wolle er sagen: ‚Ich weiß gar nicht, warum ich eigentlich hier bin’.“

Das hinderte die meisten Besucher im Anschluss jedoch nicht daran, auch von Chris Ware ein signiertes Buch zu erwerben. Auf ein neues Werk von Scott McCloud muss man indes noch warten: Der Zeichner verriet, dass er Ende des Jahres eine neue Graphic Novel fertig stellen wolle. „Es könnte vielleicht das letzte Buch sein, das ich gedruckt herausbringe. Danach könnte es nur noch digitale Veröffentlichungen geben.“

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