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Jenseits der Geschlechtergrenzen: Eine Seite aus Sarah Barczyks in Arbeit befindlicher Erzählung „Nenn mich Kai“.

© Illustration: Barczyk

Comicforschung: Auf den Grenzen zu Hause  

Afrofuturistische Superhelden, transsexuelle Comicfiguren, höllische Kämpfer für das Gute: Die Gesellschaft für Comicforschung widmete sich auf ihrer Jahrestagung in Berlin den Grenzüberschreitungen - mit oft überraschenden Ergebnissen.

Aus „Galactus“ wird „Mo’Blacktus“, „The Incredible Hulk“ wird zu „The Unkillable Buck“ und Malcolm X trägt eine Magneto-Maske – schon die zentrale ComFor-Ausstellung des Künstler-Duos Black Kirby, das Marvel-Figuren zu afrofuturistischen Superhelden umdeutet, zeigt, wie spielerisch leicht Comics Grenzen überschreiten können. Genau dies war das Thema der neunten Tagung der Gesellschaft für Comicforschung unter dem Titel „Grenzen ziehen, Grenzen überschreiten“, auf der am vergangenen Wochenende in der Humboldt-Universität Berlin etliche internationale Comicforscher das Medium erforschten.

Bei den mehr als 40 Vorträgen und Präsentationen stand vor allem das Thema Intermedialität im Fokus: Alltags-Piktogramme, Wechselwirkungen zwischen Comics und Film, Literatur, Computerspielen oder bildender Kunst, Verweise von Musikvideos und Pop-Alben hin zum Comic und wieder zurück (gezeigt am Beispiel „The True Lives Of The Fabulous Killjoys“, der auf dem gleichnamigen Album von My Chemical Romance basiert).

Grenzgänger aus der Hölle

Für Schauwerte sorgten dabei zum einen die Ausstellung der drei Bestplatzierten bei der Vergabe des Comic-Stipendiums von Egmont: Den ersten Platz erlangte die Zeichnerin Sarah Barczyk, die sich in  „Nenn mich Kai“ mit Geschlechtergrenzen auseinandersetzt. John Jennings, die eine Hälfte von Black Kirby, eröffnete am Freitag die Ausstellung seiner gemeinsamen Arbeiten mit Stacey Robinson, die das erste Mal überhaupt in Deutschland gezeigt wurden. Derzeit ist die Ausstellung noch in der Galerie des Comic-Shops Modern Graphics im Europa-Center zu sehen.

Dass Comicfiguren und Superhelden auch inhaltlich Grenzgänger sind, zeigten mehrere Vorträge, zum Beispiel „Dämonische Moral. Konzeptionen des freien Willens in Mike Mignolas Hellboy“ des Historikers Timo Saalmann: Hellboy stammt zwar aus der Hölle, kämpft jedoch für das Gute und entscheidet sich so bewusst gegen das ihm angedachte Schicksal. „Hellboy zeigt sich damit moralisch eigensinniger und freier als die Menschen um ihn herum“, sagt Saalmann. „Die Figur zeigt, dass sie in keiner Kategorie aufgehoben ist und ständig diese Grenzen kaputtmacht“, merkt ein Zuschauer an. „Das im besten Sinne queer.“

Viele Perspektiven, viel Theorie

Ein Großteil der rund 90 Teilnehmer der ComFor gehörte selbst zu den Vortragenden, die wenigen Besucher ohne ComFor-Verbindung urteilten zwiespältig über die Tagung: „Mir haben die Black Kirby-Ausstellung und der Vortrag von John Jennings gut gefallen“, sagt Claire Abendland. „Aber vieles ist doch sehr theoretisch und abstrakt.“

Dies ließ sich vielleicht nicht vermeiden, denn neben der Intermedialität zog sich eine noch grundlegendere Diskussion durch die Tagung, nämlich die Frage, wie sich Comics überhaupt definieren lassen. „Das Medium wird von extrem vielen Disziplinen betrachtet, von Medienwissenschaftlern über Judaisten, Historiker oder Philosophen“, sagt der Kunsthistoriker und Kurator Jens Meinrenken. „Viele junge Forscher entdecken Comics für sich, um ihr Fach mit neuen Themen zu bereichern.“ Meinrenken hat ein ambivalentes Verhältnis zu diesem Trend, denn: „Bei aller Neugier fehlt es oft an historischer Kenntnis über Comics.“

Malcolm X als Magneto: Eine der Arbeiten des Künstler-Duos Black Kirby.
Malcolm X als Magneto: Eine der Arbeiten des Künstler-Duos Black Kirby.

© Promo

In der Marginalisierung am spannendsten

Viel Grundsätzliches wurde auch bei der Podiumsdiskussion „Welche Grenzen überschreitet der Comic?“ am Samstag besprochen: „Ich glaube, eine Comic-Definition, die Grenzen zumacht, wäre nicht hilfreich“, so der ComFor-Vorsitzende  Stephan Packard. Comics seien gerade dann spannend, wenn sie sich an den Grenzen und damit auch in der Marginalisierung aufhalten, denn: „Es gibt andere Medien, deren Bilder immer an den Orten sind, wo sie uns nicht überraschen.“

Bestätigt wurde dies durch die Arbeiten von Podiums-Teilnehmerin Susanne Buddenberg („Berlin – geteilte Stadt“), die ihre Comics unter anderem schon in Kirchen, U-Bahnhöfen, im Bundesfinanzministerium oder als 3D-Installation ausgestellt hat. „Eigentlich ist ‚Geteilte Stadt’ auch gar kein Comic, es ist eher ein Reiseführer“, so Buddenberg. Demnächst plane sie sogar ein Sticker-Album in Comic-Form.

Ökonomische und ideologische Klüfte

Bei aller Grenzenlosigkeit des Mediums wurden auf dem Podium dennoch zahlreiche Hindernisse festgestellt, etwa ökonomische: „Es gibt viele Grenzen, vor denen man als Verlag Halt macht: Wirtschaftliche Gründe, Bedingungen von Lizenzgebern, was finden Eltern gut oder was könnten sie anstößig finden?“, zählte Alexandra Germann vom Egmont-Verlag auf. „Man bewegt sich im Verlagswesen ständig von Grenze zu Grenze.“

Auch die (geistige) Grenze zwischen Massenware und innovativen Autorencomics ist nach wie vor vorhanden: „Vom neuen Asterix drucken wir eine Million Stück, von Graphic Novels oft nur 1000 bis 3000 Stück“, sagt Germann. „Graphic Novel“ sei für sie vor allem ein Marketing-Begriff, so Germann, aber einer, mit dem sich Klüfte überwinden lassen: „Wir können ihn nutzen um dem Publikum Comics auf eine andere Art und Weise zugänglich zu machen.“

Dekonstruierter Held: Eine Arbeit von John Jennings.
Dekonstruierter Held: Eine Arbeit von John Jennings.

© Promo

Und das, wo doch gerade dieser Begriff neue Grenzen im Comic-Land gezogen hat und ältere Comics abwertet, findet Jens Meinrenken, der ebenfalls Teilnehmer des Podiums war: „Für mich kann ein Superman-Heft genauso innovativ und politisch sein wie eine Graphic Novel.“ Meinrenken verweist darauf, dass in der ersten Superman-Story eine Frau vor dem elektrischen Stuhl gerettet wird: „Das ist ein hochpolitisches Statement, doch darauf wird in der Wissenschaft nicht eingegangen.“

Einladung an die Wissenschaft

Überhaupt - die Grenzen zwischen Comic-Künstlern und Wissenschaftlern: „Besonders in Frankreich habe ich oft beobachtet, dass Comic-Macher zwar gerne mit Journalisten reden, aber so gut wie nie mit Wissenschaftlern sprechen wollen – das ist ganz seltsam“, sagt Thomas Becker von der Hochschule für Bildende Kunst Braunschweig. Dabei sei das wachsende Interesse der Wissenschaftler heutzutage enorm wichtig für Comics, so ein Zuschauer: „Wir mussten in die Museen und in die Wissenschaft gehen, um zu überleben.“

Trotz aller ermittelten Grenzen: Es zeigte sich, dass die Comic-Szene immer noch zu klein und von zu wenig inneren Grenzen durchzogen ist, um sich große Grabenkämpfe zu liefern. Dissens kommt bei der Diskussion nicht wirklich auf, im Gegenteil, am Ende greift Germann als Frau aus der Praxis die Kluft zwischen Wissenschaft und Comic-Schaffenden auf und macht einen Vorschlag: „Ich würde sie als Wissenschaftler gerne einladen, einmal zu uns in den Verlag zu kommen, damit wir uns vor Ort aus beiden Perspektiven über Comics austauschen können.“ Eine Einladung, die Packard, Becker und Meinrenken gerne annehmen. „Genau so etwas fehlt uns“, sagt Becker.

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