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Immer für eine Überraschung gut: Tim und Struppi, wie Roy Lichtenstein sie sieht. Dieses Bild stammt aus dem opulenten Bildband "Roy Lichtenstein: Plakate/Posters" (152 Seiten, 29,95 Euro) aus dem Prestel-Verlag.

© Illustration: Lichtenstein/Prestel

Comicforschung: Falsche Türen, doppelte Schatzkammern

In seinem anregenden Buch „Tim und Struppi und das Geheimnis der Literatur“ liest der Brite Tom McCarthy Tim-und-Struppi-Alben wie eine literarische Schatzkarte, um ihnen ihre Geheimnisse zu entlocken.

Ein anspruchsvolles Buch über Comics zu schreiben, kann eine unangenehme Aufgabe sein. Allzu oft tendieren Autoren dazu, beinahe entschuldigend zu verallgemeinern oder sie lassen ihre Leser mit einer Detailfülle und einem hochkomplexen Theoriegebilde zurück alleine zurück. In „Tim und Struppi und das Geheimnis der Literatur“ fordert der Brite Tom McCarthy seine Leser auf, ihm zu folgen, er gibt Erklärungen und führt mal langsamer, mal schneller in den Welt von Hergé, Tim und Kapitän Haddock ein.

Gruppenbild mit Tim

Auch wenn der erste Blick ins Buch ein wenig den Verdacht von Name dropping aufkommen lässt, so hat McCarthy doch eine klare Interpretationsstrategie vor Augen. Sein kritischer Apparat wird den Comicalben – die McCarthy als Hergés Gesamtwerk liest – nicht aufgezwungen, sondern steht gleichwertig neben ihnen. Wie Roland Barthes in „S/Z“, seiner Auseinandersetzung mit Honore de Balzacs Novelle „Sarrsasine“, so erkenntMcCarthy – der Titel seines ersten Kapitels lautet bezeichnenderweise R/G – in dem Comic ein Textgeflecht, das es zu lesen, zu sammeln und letztendlich zu entschlüsseln gilt.

Neben Barthes drängen sich noch weitere Figuren auf McCarthys Familienfoto. Selbstverständlich stehen Tim, Kapitän Haddock, Professor Bienlein, Schulze und Schultze im Mittelpunkt (nur Struppi wird sträflich verschmäht), doch bleibt am Rand noch genug Platz für einige weitere bekannte Gesichter. Der Literaturwissenschaftler Jacques Derrida nimmt freundlich Platz und auch der Psychoanalytiker Sigmund Freud darf nicht fehlen. Ganz im Zentrum des Bildes bleibt eine Leerstelle für die mysteriöse Vergangenheit von George Remi frei, des Schöpfers von „Tim und Struppi“, dessen umgedrehte Initalien (G.R.) sein Pseudonym Hergé ergeben. McCarthy entwickelt das Bild langsam und je weiter er in die Alben vordringt, desto definierter werden die Konturen.

Eine literaturwissenschaftliche Schatzsuche

Neben einer Fülle von Theorien, die der Brite stets für seine Zwecke beispielhaft erläutert, bekommt der Leser im ersten Kapitel gleich eine äußerst klare Definition von Literatur vorgesetzt: Literatur ist eine Form des Austausches, der Geschichten zu Waren macht. Auch darin unterscheidet „Tim und Struppi und das Geheimnis der Literatur“ sich von anderen Büchern über Comics. Anstatt sich wissenschaftlich immer auf neutralem Boden aufzuhalten, stellt McCarty ganze bewusst eine Setzung auf. Ob diese Definition nun richtig oder falsch sein mag, sei dahingestellt. Nur so kann er damit beginnen seine eigene Ware, seinen Text, feilzubeiten.

Wie ein Händler geht McCarthy Hergés ganzes Sortiment von Album zu Album durch und preist in jedem Kapitel Themenkomplexe an: Literatur und Kommunikation, Faschismus und Freundschaft, Grabkammern und Spektakel, Fälschung und Tabak. Sein lose zusammenhängendes Angebot verbindet McCarthy durch zwei zentralen Themen: Der Suche nach Hergés Vergangenheit und die Korrektur selbiger in den Comics. Sowohl das Verhalten der Zwillinge Schulze und Schultze, als auch die Suche nach Kapitän Haddocks Vergangenheit verweisen, laut McCarthy, auf George Remis mögliche Abstammung vom französischen Adel. Auch Hergé Kollaboration mit den Nazis spiegelt sich im Comic wider: Professor Bienlein, zeitweise Hergés Alter Ego, muss sich exemplarisch vor Gericht verantworten.

Die Reise zum Mittelpunkt von Tim

Auf dem Weg zu einem definitiven Ziel bemerkt McCarthy, dass jedes Vordringen in den Hergéschen Kosmos kein linearer Prozess ist, da man bei jedem zweiten Schritt nach vorne einen Schritt zurück machen muss. Das Prinzip der „korrigierten Ruhelosigkeit“, das hier Verwendung findet, hat McCarthy sich bei Fritz Senns Arbeit über James Joyce ausgeborgt. Es besteht im Text ständig die Notwendigkeit Korrekturen vorzunehmen. Denn auch wenn Hergé mit den Nazis kollaboriert haben mag, so wird Bienlein doch freigesprochen; Die Vergangenheit wird korrigiert und anschließend neu bewertet. Auf ähnliche Weise versteckt Hergé auch seine Vergangenheit hinter falschen Türen und in doppelten Schatzkammern.

Gleichzeitig sind die Comicalben übersät mit Hinweisen , denen McCarthy auf seiner Lesereise durch die Comics nachgeht. Er findet interessante Parallelen mit Remis Leben. Tatkräftige Hilfe bekommt er vom jungen Reporter Tim höchstpersönlich. Ihm gelingt es alle Codes zu knacken und alle Hinweise zu finden. Gegen Ende von „Tim und Struppi und das Geheimnis der Literatur“ beschleicht McCarthy das Gefühl, dass es in Wirklichkeit Tim ist, der diese Querverweise geschickt streut und immer wieder korrigiert. Der junge Reporter im Rampenlicht, dessen Name im Französischen nichts bedeuten kann, wird zum leeren Zentrum der Comics, zu einem weiteren weißen Fleck auf dem Familienfoto. 

Mit „Tim und Struppi und das Geheimnis der Literatur“ hat Tom McCarthy nicht nur ein Buch geschrieben, das zum Nachdenken einlädt, sondern auch zum erneuten Lesen von „Tim und Struppi“. Dabei muss auch die Arbeit des Verlages Blumenbar und die Übersetzung von Andreas Leopold Hofbauer gewürdigt werden. Natürlich ist „Tim und Struppi“ eine Ausnahme in der europäischen Comiclandschaft, doch wenn heute schon Kleinverlage solch gut lesbaren Bücher über Comics herausgeben, dann lässt das für die wachsende Anerkennung dieser Gattung hoffen.

Tom McCarthy: Tim & Struppi und das Geheimnis der Literatur, aus dem Englischen von Andreas Leopold Hofbauer, Blumenbar, 256 Seiten, 18,90 Euro. Mehr auf der Website des Verlages. Ein lesenswertes Interview mit Tom McCarthy im SZ-Magazin steht unter diesem Link.

Mehr zum Thema Tim und Struppi unter diesem Link.

Die Homepage unseres Autors Daniel Wüllner findet sich hier, zu seinem Blog geht es hier. 

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