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Marcel Gotlib (1934-2016).

© Francois Guillot / AFP

Comiczeichner Marcel Gotlib: Humorist ohne Tabus

Marcel Gotlib war einer der bedeutendsten satirischen Comiczeichner Europas. Jetzt ist er mit 82 gestorben. Sein Werk wird in Deutschland gerade wiederentdeckt.

In seinen Comics konnte es passieren, dass sich die Figuren zu Tode lachten. Und auch seinen Lesern hat er viele äußerst amüsante Stunden beschert. Am vergangenen Sonntag ist überraschend mit Marcel Gotlib einer der bedeutendsten humoristischen Comiczeichner gestorben, dessen Werke in Deutschland vor allem in den 1970er und 80er Jahren veröffentlicht wurden.

Der 1934 in Paris geborene Marcel Gotlieb (erst später nannte er sich „Gotlib“) war Kind jüdischer Eltern. Sein Vater wurde im KZ Buchenwald ermordet, während es seiner Mutter gelang, Marcel und seine jüngere Schwester auf einem Bauernhof zu verstecken.

Tiefschwarze Parodien auf menschliche Verhaltensweisen

Diesem Schicksal zum Trotz entwickelte sich Gotlib zum wohl fleißigsten und einflussreichsten Humoristen unter den Comiczeichnern Frankreichs, der den Humor seines Landes von den 1960ern bis in die 90er Jahre hinein prägte und auch kommende Zeichnergenerationen beeinflusste. Nach Erfolgen in den Zeitschriften „Vaillant“ und „Pilote“ initiierte er 1972 zusammen mit Claire Bretécher und Nikita Mandryka die erste von Künstlern selbst gegründete Comiczeitschrift, „L'Echo des Savannes“, dann 1975 sein eigenes Magazin „Fluide Glacial“, das bis heute existiert und sich ganz dem humoristisch-satirischen Comic widmet. Das deutsche Magazin „U-Comix“ ist übrigens nach dem Vorbild von „Fluide Glacial“ entstanden.

Absurder Alltag: Eine Seite aus den "Dingodossiers".
Absurder Alltag: Eine Seite aus den "Dingodossiers".

© toonfish

Seine wichtigsten Werke waren u.a. die satirische Kolumne „Rubrique-à-Brac“ (deutsch: „Auf Fall und Knall“), „Gai Luron“ („Witzbold“, ein extrem phlegmatischer Hund), “Superdupont“, „Hamster Fidel“ und „Peter Pervers“. Seine Spezialität waren beißende, tiefschwarze Parodien auf allzu menschliche Verhaltensweisen (und Triebe), deren Mechanismen er in zahllosen kurzen Strips oder wenige Seiten langen Episoden peinlichst sezierte, überdreht-grotesk darstellte und so brutal bloßstellte.

Gotlibs Zeichenstil ist von Walt Disney-Zeichentrickfilmen wie „Pinocchio“ beeinflusst. Vordergründig wirken die Figuren niedlich und freundlich, was sich dann durch das ernüchternde Geschehen oft ins Gegenteil verkehrt – und so Lachen provoziert.

Gotlibs auch sehr visueller Witz gipfelte oft in extremer Deformation der Figuren, die sich etwa im gemeinsamen Lachen ineinander verflochten oder gegenseitig malträtierten – und das ganz nebenbei. Der „Running Gag“ war auch seiner Spezialitäten – immer wieder spazierte ein kleiner Marienkäfer in die Zeichnungen, um trockene Kommentare abzugeben. Isaac Newton und sein die Gravitäts-Theorie inspirierender Apfel tauchte ebenfalls in unendlichen Variationen auf.

Pädophile Phantasien eines Pfadfinderführers

Political Correctness kannte Gotlib nicht. Werke wie „Hamster Fidel“ visualisierten die pädophilen Phantasien eines Pfadfinderführers, aber auch die „lieben Kleinen“ waren zwar lieblich gezeichnet, hatten es aber meist faustdick hinter den Ohren.

Die Stripreihe „Peter Pervers“ wiederum handelte von einem immerzu vor Geilheit sabbernden Exhibitionisten, der gerne seinen weiten Mantel vor Passanten öffnet – der Witz entstand dann dadurch, dass diese Passanten sich meist als weniger wehrlos herausstellten, als zunächst gedacht, und entsprechend abgebrüht reagierten oder Peter Pervers gar zuvorkamen.

Die nächste generation: Eine Seite aus „Superdupont - Renaissance“.
Die nächste generation: Eine Seite aus „Superdupont - Renaissance“.

© Splitter

Gotlibs Humor kannte auf seinem Höhepunkt keine Grenzen oder Tabus und zielte einzig darauf ab, jeder Situation die witzigste und überraschendste Pointe zu entlocken. Auch als Szenarist erfolgreich, arbeitete er mit den Besten seiner Zeit zusammen, so mit dem bereits 1977 verstorbenen legendären Zeichner Alexis (alias Dominique Vallet, „Werbung macht Spaß“), Jean Solé oder François Boucq.

Während Gotlib in Frankreich heute noch populär ist, ist er in Deutschland wohl nur noch jenen Lesern ein Begriff, die seine Werke in zahlreichen Publikationen des Volksverlags sowie des Carlsen-Verlags in den 1980ern und 90ern entdecken konnten. Es ist bedauernswert, dass hiesige Comicverlage doch meist nur den Mainstream der Klassiker pflegen und nachdrucken, und derart große Künstler in Vergessenheit geraten können. Doch - welch Wunder - erst kürzlich erschienen in den Schwesterverlagen Splitter und toonfish zwei Werke von Gotlib, die noch nie in Deutschland veröffentlicht wurden.

Besser spät als nie: Die "Dingodossiers" wurden kürzlich erstmals ins Deutsche übertragen.
Besser spät als nie: Die "Dingodossiers" wurden kürzlich erstmals ins Deutsche übertragen.

© toonfish

Während Gotlibs letzte Arbeit, das Szenario „Superdupont - Renaissance“ (Splitter Verlag, 70 Seiten, 15, 80 Euro) die bereits 1968 von ihm und Jacques Lob kreierte französische Superhelden-Parodie um einen „100%igen Franzosen“ überraschend fortschreibt (diesmal gezeichnet von François Boucq), sind „Die Dingodossiers“ (Gesamtausgabe, toonfish, 280 Seiten, HC, 39,95 Euro) eine echte Ausgrabung.

Einer der genialsten zeichnenden Humoristen

Nach Anfangserfolgen als Zeichner für die Zeitschrift „Vaillant“ wechselte Gotlib 1965 zum Magazin „Pilote“, das damals von René Goscinny geleitet wurde. So kam es zur Zusammenarbeit mit dem legendären Szenaristen, der u.a. „Asterix“ miterfand und auch „Lucky Luke“ prägte. Der umfangreiche Band beinhaltet sämtliche, meist zweiseitigen Gagstories, sogenannte „Dingodossiers“ („bekloppte Dossiers“), die - im Gewand sich ernst nehmender Gesellschaftsstudien - behaupten, die geheimen Hintergründe bekannter Alltagssituationen aufzudecken. Etwa: Königin Bertha hatte elend lange Füße, machte aber das Beste daraus - sie erfand das Wasser-Skifahren. Oder: Was passiert, wenn alle berühmten Comicfiguren im Sommer Frankreich verließen und in Urlaub führen? Das wäre nicht so schlimm, denn zur selben Zeit träfen die amerikanischen Superhelden zum Urlaub in Frankreich ein…

Da ist er wieder. Kürzlich belebte Gotlib seinen Helden Superdupont neu.
Da ist er wieder. Kürzlich belebte Gotlib seinen Helden Superdupont neu.

© Splitter

Der Leser kann sich durch ein wildes Gag-Kompendium schmökern, das zwar noch nicht jenen schrankenlosen, entfesselten Humor bietet, den Gotlib später entwickelte, aber schon alle typischen stilistischen Merkmale enthält.

Auch heute noch, erstmals ins Deutsche übersetzt, verblüffen diese „anthropologischen Studien“ zweier Meister durch ihren Einfallsreichtum und ihren feinen Humor. Über die weite Bandbreite an Themen erfährt der Leser auch viel über die damalige Zeit (die 60er), den Stand der Technik und die Gepflogenheiten in der Filmindustrie. Vor allem der junge Gotlib ist wiederzuentdecken, der unter Goscinnys Szenaristen-Fuchtel zu einem der genialsten zeichnenden Humoristen reifte.

So kann diese verlegerische Großtat auf einen bedeutenden Zeichner und Autor neugierig machen, und der auf den Geschmack gekommene Leser kann hoffen, dass vielleicht auch Gotlibs Hauptwerke einmal neu aufgelegt werden.

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