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Familienschicksal. Eine Seite aus dem besprochenen Buch.

© Panini

„Das versteckte Kind“: Die Sheriffsterne von Paris

Die in der NS-Zeit spielende Erzählung „Das versteckte Kind“ wurde für einen Max-und-Moritz-Preis nominiert. Zu Unrecht, findet unser Autor.

Erneut widmet sich eine Graphic Novel dem Thema der Judenverfolgung während des Zweiten Weltkriegs. Art Spiegelman bewies mit seiner zweibändigen Comicerzählung „Maus“, die zwischen 1978 und 1991 entstand und auf ausführlichen Gesprächen mit seinem Vater, einem Holocaust-Überlebenden basierte, dass die damals noch belächelte Kunstform Comic eine durchaus geeignete Erzählform sein kann, um den Holocaust darzustellen. Mit seiner einzigartigen Mischung aus Roman, Parabel bzw. Tierfabel und dokumentarischen Elementen war Spiegelmans Survivor's Tale wegweisend für viele Graphic Novel-Künstler – und eine hohe Messlatte. Trotzdem gibt es immer wieder respektable Versuche, die Thematik aufzugreifen. Jüngst etwa „Der Boxer“, Reinhard Kleists 2012 in Buchform erschienene, eindringliche Comic-Biografie des KZ-Überlebenden Hertzko Haft. Wie Art Spiegelman entschied sich Kleist, seine harte, realistische Erzählung ganz in Schwarz-Weiß zu halten.

Der Judenstern wird zum „Sheriffstern“

Die nun vom Panini-Verlag als Graphic Novel beworbene Comic-Erzählung „Das versteckte Kind“ ist mit diesen Werken weder vom Umfang her noch im künstlerischen Anspruch vergleichbar. Allerdings wendet sie sich auch nicht an erwachsene, sondern an kindliche Leser und konzentriert sich auf eine Episode der französischen Geschichte während der deutschen Besatzungszeit.

Die kleine Jüdin Dounia wohnt 1942 mit ihren Eltern in Paris und erlebt die alltägliche, schleichende Ausgrenzung der Juden mit, ohne die Vorgänge zu verstehen. Erst muss sie – nach der Einführung der deutschen Judengesetze in Frankreich - einen gelben Judenstern tragen, den ihr der Vater als „Sheriffstern“ schönzureden versucht, um sie zu schonen. Doch schon bald wenden sich die Mitschüler und selbst ihre beste Freundin ohne verständlichen Grund von ihr ab und Dounia wird - wie jedes andere jüdische Kind - zur Außenseiterin. Die Eltern beschließen, sie aus der Schule zu nehmen und zu Hause zu erziehen.

Doch dann kommt der Tag des „Rafle du Vél d´Hiv“, einer der größten Razzien in Paris, bei denen die französische Polizei mit den Nazis kollaborierte, um Juden zusammenzutreiben - anschließend wurden sie auf deutschen Befehl in die Vernichtungslager nach Osteuropa deportiert. Dounias Eltern können die kleine Tochter noch rechtzeitig im Schrank verstecken, während sie sich selbst der Verhaftung nicht entziehen können. Dounia hat das Glück, von den Péricards, einem freundlichen Nachbarspaar, aufgenommen und in deren Wohnung versteckt zu werden. Doch bald ist sie in ihrem Mietshaus nicht mehr sicher. Nach einem Verrat wird das Paar auseinander gerissen. Madame Péricard gelingt es, Paris mit Dounia als ihrer „Tochter“ zu verlassen, die sich nun zum Schutz Simone nennt. Geschützt von einer freundlichen Bäuerin, kann Dounia/Simone zusammen mit ihrer vorgeblichen Mutter auf dem Lande den Krieg überleben…

Die Geschichte erinnert an Anne Frank

Die Ereignisse der vierziger Jahre werden durch eine in der Gegenwart angesiedelte Rahmenhandlung abgerundet: Darin erzählt Dounia als Großmutter ihrer Enkelin Elsa ihre Geschichte, die sie bislang noch nicht mal ihrem eigenen Sohn erzählen konnte.

Offenbarung: Die Erzählung nimmt konsequent die kindliche Perspektive ein.
Offenbarung: Die Erzählung nimmt konsequent die kindliche Perspektive ein.

© Panini

Szenarist Loïc Dauvillier (bekannt etwa durch die kürzlich im Carlsen Verlag erschienene Graphic-Novel-Adaption von Yasmina Khadras Roman „Das Attentat“) hat die Geschichte vom „versteckten Kind“ angelehnt an zahlreiche ähnliche Schicksale französischer jüdischer Kinder, die während der Vichy-Regierungszeit von mutigen Menschen versteckt wurden, und ließ sich von Zeitzeugen beim Entwurf der Geschichte beraten.

In französischen Büchern und Filmen wurden die Ereignisse des „Rafle“ insbesondere in den letzten Jahren wiederholt aufgegriffen (vor allem der auf Tatsachen basierende Film „Die Kinder von Paris“ von 2010 sowie die Romanverfilmung „Sarahs Schlüssel“ von 2011). Die Graphic Novel versucht diese, auch ein wenig an Anne Franks Schicksal erinnernde Geschichte für Kinder auf einfache Weise zu erzählen, sich dem fragmentarischen kindlichen Erfahrungshorizont anzunähern und nicht alles auszuerklären.

Wehrmachtsoldaten als knubbelige Spielzeugfiguren

Diese Schlichtheit der Erzählung trägt allerdings dazu bei, dass das Buch nicht ganz überzeugt. Politisch-historische Hintergründe und Zusammenhänge werden fast vollständig ausgeklammert, nur im kundigen Nachwort von Hellen Kaufmann wird knapp auf die antisemitische Aktion des „Rafle“ und die Mitverantwortung der Vichy-Regierung verwiesen. Doch das Störendste am Buch ist der Zeichenstil. Alle Charaktere werden von Zeichner Marc Lizano im Bilderbuchstil mit überdimensionierten Köpfen dargestellt, was vielleicht der kindlichen Wahrnehmung entsprechen soll. Doch dadurch tritt ungewollt der Effekt einer Verniedlichung sämtlicher Personen - und damit mancher Ereignisse - ein.

Knubbelige Spielzeugfiguren. Die Hauptfigur auf dem Cover des besprochenen Buches.
Knubbelige Spielzeugfiguren. Die Hauptfigur auf dem Cover des besprochenen Buches.

© Panini

Selbst die nur am Rande auftretenden deutschen Soldaten wirken mit ihren gestauchten Proportionen und den runden Köpfen wie knubbelige Spielzeugfiguren – das dürfte kaum der Sicht eines Kindes auf Erwachsene oder gar übermächtige Besatzer entsprechen. Kinder- wie Erwachsenencharaktere ähneln sich insgesamt zu sehr, sodass man sie verwechseln kann und Mimiken (wie das traurige oder gequälte Gesicht Dounias) wiederholen sich auf schematische Weise. Lizanos Seitenlayouts sind sehr schlicht gehalten, die Farbgebung gedämpft, aber ohne echtes Konzept.

In den wenigen Szenen mit historischen Bezügen ist obendrein zweifelhaft, ob der Zeichner ausreichend Recherche betrieb: Wehrmachtssoldaten tragen mitten in Paris Stahlhelme, was nur an der Front üblich war; eine nach Kriegsende aus Osteuropa heimkehrende KZ-Überlebende trägt in Paris noch immer ihre Sträflingskluft. Solche Ungenauigkeiten tragen dazu bei, dass die Geschichte an Authentizität einbüßt und damit ihre Wirkung - zumindest auf den erwachsenen Leser - verfehlt.

Trotz dieser Einwände könnte sich das Buch vielleicht als Einführung für Kinder in die Holocaust-Thematik eignen, zumal es sich als allgemeingültige Parabel gegen Ausgrenzung und Ungerechtigkeit lesen lässt. Auch gibt es berührende Momente, etwa wenn Dounia ihre Eltern vermisst, über deren Schicksal sie lange nichts erfährt und sie sich mit Madame Péricard als ihrem neuen „Mamilein“ abfinden muss.

Dass die Erzählung für den diesjährigen „Max-und-Moritz-Preis“ nominiert ist, verwundert, da Form und Inhalt zu sehr auseinanderklaffen und nicht annähernd die Intensität eines Art Spiegelman oder eines Jacques Tardi („Ich, René Tardi, Kriegsgefangener im Stalag II B“) erreicht wird, deren Werke durch Authentizität, persönliche Motivation und nicht zuletzt gründliche Recherche überzeugen. Die Nominierung ist wohl vor allem dem historisch wichtigen, weiterhin aufrüttelnden Stoff geschuldet, der schon an sich anrührt und hierzulande nicht so bekannt ist wie in Frankreich.

Marc Lizano, Loïc Dauvillier: Das versteckte Kind, 84 Seiten, Panini Comics, 16,99 Euro

Unser Autor Ralph Trommer ist Dipl.-Animator, Autor von Fachartikeln über Comics, Prosatexten und Drehbüchern. Weitere Tagesspiegel-Artikel von ihm unter diesem Link.

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