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Entdeckungen in Berlin und Tel Aviv: Sensationen des Alltags

Sechs Comiczeichner aus Israel und Deutschland erkunden das jeweils andere Land

Zwischen der weltoffenen Metropole und der einstigen Hauptstadt des Nazi- Reiches liegen nur ein paar Schritte. So erlebte es der israelische Künstler Guy Morad bei seinem Besuch in Berlin. Eben noch hat er sich beim türkischen Kebabverkäufer einen Döner geholt, nun stößt er auf einen „Stolperstein“, der an eine Berlinerin erinnert, die 1942 in Auschwitz ermordet wurde. Irritiert bleibt Guy Morad stehen und beobachtet prüfend die vorbeihastenden Passanten.

Diese kleine, symbolträchtige Szene hat der Grafiker Guy Morad in der halbfiktiven Comic-Erzählung „Memories“ festgehalten. Sie ist Teil eines einzigartigen deutsch-israelischen Künstleraustausches, dessen Ergebnisse jetzt als Buch erschienen sind und in einer Ausstellung gezeigt werden. „Cargo“ heißt das Projekt, für das im Frühjahr je drei Comiczeichner aus Berlin und Israel für ein paar Wochen ihre Heimatorte getauscht haben, um das Erlebte dann in Bildreportagen zu beschreiben.

„Wir wollten dem harten, beschränkten Nachrichtenbild ein Bild des Alltags entgegensetzen“, erklärt Tim Dinter, Mitglied der Berliner Zeichnergruppe Monogatari. Er verbrachte einige Wochen in Tel Aviv, das Einheimische „Big Orange“ nennen, traf Künstler und beobachtete Straßenszenen, die er in sachlichen, realistisch gehaltenen Bildern zu Papier brachte. Tel Aviv erscheint bei ihm als coole Weltstadt mit morbidem Charme, in der nur gelegentliche ferne Explosionen daran erinnern, dass sie eben doch kein Ort wie jeder andere ist.

Fremdartiger und als Ort voller Widersprüche erlebte sein Kollege Jens Harder Jerusalem, Pilgerstätte für Gläubige und religiöse Fanatiker aller Art. Harder, Initiator des von Goethe-Institut und Bundeskulturstiftung gesponserten Austausches, kombiniert in detailverliebten, lebendigen Bildern Anekdoten mit einer pointierten Analyse der dreifach geteilten Stadt Jerusalem. Erklärende Elemente wie aus einem Reiseführer mischt er mit Szenen, die das skeptische Staunen des Atheisten über die Rituale tief religiöser Menschen ausdrücken.

Die Weltpolitik spielt in den Zeichnungen kaum eine Rolle. „Wir haben uns mit dem Nahostkonflikt beschäftigt, würden uns aber in den meisten Fragen kein Urteil erlauben wollen“, sagt Harder. Auch NS- Geschichte und Holocaust habe man bewusst nicht weiter thematisiert, um sich mehr dem Alltag jenseits von deutsch-israelischer Geschichte und Nahostkonflikt widmen zu können. So hat der dritte Berliner im Bunde, der Zeichner Jan Feindt, seine Eindrücke in Beduinencamps und improvisierten Lagern im Sinai in Sequenzen voller Mitgefühl für das Leben am Rande der Gesellschaft wiedergegeben.

Auf Alltagserlebnisse konzentrieren sich die Berlin-Geschichten der Israelis. Allerdings ist bei ihnen der Nationalsozialismus unterschwellig stets präsent. So wie Guy Morad stieß auch Yirmi Pinkus in Deutschland immer wieder auf Spuren der NS-Geschichte und demonstriert das in seiner Erzählung „Schwarze Milch“, für die er Aktuelles mit Paul Celans Gedicht „Todesfuge“ zu einer beklemmenden Montage verarbeitet. Auch die scheinbar unschuldig-naiven Berlinbilder von Rutu Modan aus Tel Aviv enthalten immer wieder Anspielungen auf die deutsche Geschichte: Hitlers Konterfei auf einer Zeitschrift, ein Hakenkreuz auf einer Jacke, Plakate. Details, die sich zu einem großen Bild fügen.

„Cargo“, Avant-Verlag, 150 S., 19,95 €.
www.avant-verlag.de, www.monogatari.de

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