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Als Unfruchtbare stigmatisiert: Eine Seite aus „True Stories – Marie Luis erzählt“.

© Parallelallee

Episodencomic „True Stories“: Die Frau, das unbekannte Wesen

Tina Brenneisen kommentiert in ihrem neuen Comic „True Stories – Marie Luis erzählt“ aktuelle Themen von Klimawandel bis Genderdebatte.

Aus den Untiefen des Meeres wird so allerhand angespült. Fische, alte Verpackungen oder verlorene Gegenstände landen an den Stränden dieser Welt. Und, welch Überraschung, sogar eine Frau. Auf diesem ungewöhnlichen Weg jedenfalls trifft Marie Luis, ehemalige Matrosin auf der Nu Pogodi, auf die drei Wissenschaftler, die in einer Wetterstation an der Karasee ihren Forschungen nachgehen.

Ihre Wahrheit: Die Erzählerin Marie Luis in einer Szene aus „True Stories“.
Ihre Wahrheit: Die Erzählerin Marie Luis in einer Szene aus „True Stories“.

© Parallelallee

Ihr Expertentum in dem einen Gebiet kann jedoch nicht verhehlen, dass es ihnen in dem anderen wahrlich an Kenntnis mangelt: der Geschichte und dem Leben der Frau.

In mehreren kurzen Episoden vermittelt Marie Luis den drei Herren anschließend die weibliche Kulturgeschichte. Die Weitergabe ihres Wissensschatzes rund um ein Lagerfeuer unweit der Wetterstation bildet das Grundgerüst der neuen Graphic Novel „True Stories – Marie Luis erzählt“ (Parallelallee, 96 S., 19 €) von Tina Brenneisen („Das Licht, das Schatten leert“, „Bergstraße 68“, „Die Hoodies“). Ironisch und überspitzt greift die Berliner Comiczeichnerin darin aktuelle Debatten auf und verwebt diese geschickt mit der Fiktion.

Gleichzeitig gestaltet sie ein verwirrendes Spiel rund um Wahrheit und Lüge. Denn sicher sein kann man sich nie, ob die eifrige Erzählerin nicht ein ums andere Mal versucht, ihre Zuhörer zu täuschen. Entscheidend ist das allerdings nicht. Dass die Grenzen zwischen fiktiver Realität und Erfundenem fließend sind, macht vielmehr den Reiz der Graphic Novel aus.

Erst einmal, nach jenem mysteriösen Fund am Strand, gilt es, die gestrandete Marie Luis wieder aufzupäppeln. Unter einem Fischernetz, mit Schlamm, Algen und Muscheln bedeckt, finden die drei Wissenschaftler dieses noch unbekannte, weibliche Wesen. Sie ist nackt, kreischt und tritt, als die Männer sie befreien wollen.

„Schnitzen sie gern?“

Mit warmer Kleidung, bei Stockbrot und Wodka wird Marie Luis kurz darauf recht redselig und die drei Wissenschaftler lauschen gebannt ihren Worten. Und sie haben viele Fragen zum Leben der Frauen wie: „Haben sie Träume?“, „Mögen sie Pudding?“ oder „Schnitzen sie gern?“

Victim Blaming: Eine Szene aus der Episode zum Thema Vergewaltigung.
Victim Blaming: Eine Szene aus der Episode zum Thema Vergewaltigung.

© Parallelallee

Die Anekdoten, die Marie Luis als vermeintlich viel Gereiste dann zum Besten gibt, liefern einen Querschnitt durch gesellschaftliche Themen wie Klimawandel, Nahrungsknappheit oder die Genderdebatte. Ob wahr oder erfunden, Fakt oder Fiktion – kritisch beleuchtet Brenneisen in den einzelnen Episoden vor allem die Rollen von Frauen und Männern und nimmt historische Unterdrückungsmechanismen unter die Lupe. Pointiert resümiert sie Konflikte unserer Zeit, manches Mal auch provokant, und zuweilen mit humorigem Anstrich.

In einer Geschichte geht es um Kathrin und ihr Leben als Frau in eisigen Gefilden. Gefesselt an den Iglu hat sie wenig Raum für eigene Lebensentwürfe. An ihr bleibt die Kinderbetreuung hängen, ohne dass sie ihren Mann zu mehr Engagement bewegen kann. Denn dieser hat nur Sprottenjagd und Eisschollensuche im Blick. Tja, das altbekannte Argument eben: Der Mann ist bei der Arbeit unverzichtbar, Teilzeit absolut unmöglich.

Erzählt wird neben dieser Frauenfigur aber auch von dem fiktiven Land, in dem sie lebt. Es trägt den Namen Feuerzund und deren Bewohner:innen sind mit ganz realen Problemen konfrontiert: Als Nomaden gründen sie an jedem neuen Ort einen neuen Staat. Alles hängt von der Eisscholle ab, auf der sie wohnen – im wortwörtlichen Sinne ihre Lebensgrundlage: Schmilzt sie, muss das kleine Völkchen weiterziehen. Nach deren Größe und der entsprechenden Verweildauer richtet sich auch die Staatsform: Nur wenn der eisige Untergrund lange hält, wird die zeitintensivere Demokratie überhaupt erst praktikabel.

In einer anderen Episode greift Brenneisen recht explizit das Thema Vergewaltigung auf. Die Männer eines Dorfes haben sich nicht im Griff und fallen ständig über die Frauen her, die als die schönsten der Welt gelten. Die langen Beine der Frauen sind einfach so „urst schön“, dass die Männer nicht widerstehen können. Die Schuld liegt natürlich bei den Frauen und ihrem allzu kurzen Lendenschurz, der die männlichen Ureinwohner des Dorfes ganz aus der Fassung bringt.

Da hilft nur noch die Ganzkörperbedeckung

Die Lösung: das so genannte „Volltuch“, eine Ganzkörperbedeckung für die Frau. Und schwupp ist der Mann wieder ganz im Einklang mit seiner Ratio. Brenneisen spielt hier konsequent durch, was Victim Blaming bedeutet: Dass Frauen immer wieder eine Mitschuld dafür gegeben wird, wenn sie Opfer von sexuellen Übergriffen werden. Wenn sie angeblich zu viel Haut zeigen, weil etwa der Rock zu kurz war.

Das Titelbild des besprochenen Buches.
Das Titelbild des besprochenen Buches.

© Parallelallee

In der Graphic Novel sind aber genauso autobiografische Bezüge zu erkennen. Denn Brenneisen bringt auch das Thema Totgeburt und somit ihre eigene traumatische Erfahrung zur Sprache. Nach mehreren Totgeburten wird Yvil, als Unfruchtbare stigmatisiert, aus ihrem Heimatdorf verstoßen.

Die Figur erinnert mit ihren kurzen blonden Haaren an Brenneisen selbst sowie an die Protagonistin ihres autobiografischen Comics „Das Licht, das Schatten leert“. Darin verarbeitet die Comiczeichnerin eine Totgeburt und die schmerzvolle Zeit danach. Für das ehrliche und berührende Werk, das auch grafisch beeindruckt, wurde Brenneisen 2017 mit dem Comicbuchpreis der Berthold Leibinger Stiftung ausgezeichnet.

[Mehr über aktuelle feministische Comics in diesen Tagesspiegel-Beiträgen: Ausbruch aus der SchönheitsfalleGrundkurs in Feminismus, Die vielen Gesichter des Feminismus.]

In „True Stories“ zeigt der Umgang mit dem Thema, dass sie noch ein Stück mehr Leichtigkeit zurückgewonnen hat. Die Wut der Protagonistin, die sie zunächst die Felswand hinunterbrüllt, mündet schließlich in einem großen Coup: der Erfindung von Pfeil und Bogen – allerdings eher zum Nachteil für die Dorfbewohner.

Neben der Vielschichtigkeit, die durch die unterschiedlichen Erzählebenen und die fiktionale Aufbereitung gesellschaftlich relevanter Themen entsteht, besticht die Comiczeichnerin auch mit ihrem künstlerischen Ausdruck. Jede Geschichte folgt einem anderen, besonderem Farbschema. Die kraftvolle Kolorierung und die besonderen Perspektiven, auch auf landschaftliche Szenerien, entfalten eine regelrechte Sogwirkung.

Mit skizzenhaftem Strich erschafft Brenneisen außerdem expressive, lebhafte Figuren. Insbesondere Marie Luis eigenwilliges, wandelbares Gesicht mit ihrem spitzen Mund und den riesigen Brillengläsern scheint Bände zu sprechen.

Birte Förster

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