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© Illustration: Liberge/Splitter

Fantasy-Groteske: Tausche Schädeldecke gegen Kaffeemühle

Die Totenwelt als Karikatur der Zivilisation: Éric Liberges jetzt abgeschlossener Vierteiler "Monsieur Mardi Gras" ist eine sarkastische Allegorie der menschlichen Zurichtung

Da sitzt der aufs bloße Skelett reduzierte Kartograph Victor Tourtelle und stellt resigniert fest: „Ich bin tot. Tot und im Gefängnis.“ Beides ist richtig, nur fällt die Entscheidung schwer, welches Gefängnis das absurdere sein soll: diese bar aller religiöser Paradiesverheißungen grau-schwarze Steppe, auf der alle Verstorbenen gezwungen sind, als karge Knochengerippe ihr ewiges Dasein einzurichten, oder ihr kafkaesker Versuch aus der Erinnerung an das Diesseits ein ihm strukturell fatal ähnelndes Jenseits zu erschaffen und zwar mit all seinen aus der diesseitigen Vorhut bekannten Zwängen, Pflichten und Sanktionen: Bürokratie, Arbeit, Gefängnis? Der Tod, soviel ist sicher, kam mit dem Spielzeugauto seines Sohnes daher, auf dem Victor versehentlich ausrutschte und sich das Genick brach. Der Rest scheint nun ewig andauernde Langeweile, die alleine in dieser einzig vom Mond erhellten, wüstenartigen Einöde ertragen werden muss (und es zeugt von Liberges sparsamen, aber sehr schwarzhumorigen Witz, wenn sich Victor mit dieser Einsicht bedrückt niederkniet und bereits im folgenden Panel eine beeindruckende Miniaturstadt im Sand modelliert).

Quecksilber ist mein Kaffee

Nachdem ihn aber ein Postbote aufsucht, registriert – fortan lautet sein Name nur noch Aschermittwoch, nach seinem Todestag - und in die nächstliegende Karikatur der Zivilisation mitnimmt, offenbart sich das Ausmaß der gesamten Misere, die sich Leben nach dem Tod schimpft:

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Steppe statt Paradies. Eine Seite aus dem ersten Band.

© Illustration: Liberge/Splitter

Tausende Skelette tummeln sich in den Gebäudeschluchten, die sich aus vielfältigen architektonischen Stilen zusammensetzen, und folgen stoisch einer Aufgabe, die sich dem Neuling Victor nicht erschließen will. Als Kaffeeersatz gibt es Quecksilber, und das wichtigste Tauschgut sind die letzten Knochen am, nun ja, Leib.

Das Setting erinnert nicht von ungefähr an Kafkas Schloss, überträgt es doch Ks Sinnsuche in einem völlig undurchschaubaren und abweisenden Systemgeflecht unmittelbar ins Jenseits. Welchen Stellenwert dann eigentlich das Vorspiel Leben einnimmt, möchte man lieber gar nicht wissen. Ein Prozess der Individuation etwa ist eigentlich nur durch Beschädigung möglich. Wie beeindruckend und detailreich Liberges Federstrich auch sein mag, die Charaktere lassen sich vor allem durch ihr physisches Manko identifizieren: Schon bald besitzt Victor statt seiner Schädeldecke eine Kaffeemühle, wie auch die restlichen Figuren vornehmlich durch ihre Eisen- und Metallsubstitute zusammen gehalten werden.

Religion als Opium der lebenden Leichen

Religion besitzt unter diesen Voraussetzungen eine essentialistische Rolle: Ihre Machthaber verwalten das (Ab-)Leben mit diktatorischer Härte, aber ihre Legitimation ist hier, im Gegensatz zur säkularisierten irdischen Welt, nun unangefochten.

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Finale. Das Cover des kürzlich erschienenen Abschlussbandes.

© Illustration: Splitter-Verlag

Antworten darauf, worauf sich nun noch warten ließe, können sie indes auch nicht geben. Als Opiat wirkt das religiöse Gerüst nun entgegengesetzt: Zu Lebzeiten dazu installiert, das Wissen um die Vergänglichkeit bestmöglich zu betäuben, versucht sie nun im Jenseits jeden Gedanken an das frühere Leben auszuradieren.

Und so bildet Widerstand den Motor der vierbändigen Erzählung: Eine Sekte will sich Victors kartographischer Kenntnisse bedienen, um endlich die Grenzen dieses jenseitigen Kosmos zu erforschen. Angesichts der bürokratischen Verwaltung des dortigen Lebens will man es ihnen auch nicht verdenken, denn die Verhältnisse erweisen sich als ebenso grausam fremdbestimmt wie bereits zu Lebzeiten.

Das ist schließlich die düstere Paradoxie dieser sarkastischen Allegorie der menschlichen Zurichtung: Sie ist ihre ständige Reflexion samt des Lebenssinns in einer zumindest farbenfroheren Gegenwart, aber die scheint sich im Vergleich zur hier gebotenen Ewigkeit nur durch die Verfügbarkeit von Haut und unzähliger Waren als die beste aller Welten zu erweisen.

Éric Liberge: Monsieur Mardi Gras. Unter Knochen. 4 Bände (Bd. 1-3 je 64 Seiten, Band 4 à 72 Seiten), Splitter Verlag, Band 1-3 je  13, 80 Euro, Band 4: 14, 80 Euro. Leseprobe auf der Website des Verlages.

Sven Jachmann

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