zum Hauptinhalt
Aus der Ich-Perspektive: Eine Seite aus „Geisel“.

© Reprodukt

„Geisel“ von Guy Delisle: 111 Tage in der Gewalt der Entführer

Guy Delisle verarbeitet in „Geisel“ die Entführung eines Freundes. Derzeit ist der Kanadier mit seinem neuen Buch in Deutschland auf Lesereise.

Guy Delisle ist mit seinen autobiographischen Comics – ob Reiseberichte oder Vatererfahrungen – auch in Deutschland so etwas wie ein Star am Comic-Markt. Mit dem jetzt auf Deutsch veröffentlichten Buch „Geisel“ betritt der in Frankreich lebende Kanadier Neuland. Seit 2000 hat er immer wieder Gespräche mit seinem Freund Christophe geführt, der 1997 als Mitarbeiter einer Nichtregierungsorganisation im Kaukasus entführt worden war und 111 Tage in der Gewalt seiner tschetschenischen Entführer war. Auf der Basis der Gespräche hat Delisle die Erfahrungen des Entführten und seine Befreiung zu einem eindrucksvollen Comic verarbeitet.

Die Tage sind kaum weniger düster als die Nächte

Mutmaßlich bestand eine Schwierigkeit darin, die Monotonie der Gefangenschaft so umzusetzen, dass sie sich dem Leser erschließt, dass er sie miterlebt und mitfühlt, ohne sich aber zu langweilen. „Action“ gibt es nämlich in dieser langen Erzählung nur zu Beginn und am Schluss.

Grundsätzlich bleibt Delisle seinem Stil treu, er skizziert Umgebungen, er deutet an, er vereinfacht. Allerdings ist der Protagonist etwas weniger cartoonhaft gezeichnet als sonst; für sich selbst als seinen üblichen Hauptprotagonisten hat Delisle eine deutliche Cartoonhaftigkeit zu Recht als angemessen betrachtet. Hier ist das Thema ernster und so auch die Darstellung.

Auch die „Action“ ist eher dokumentarisch und reduziert erzählt und inszeniert, es gibt viele Draufsichten, es ist dunkel, der Leser wahrt gewissermaßen seine Distanz zum Geschehen.

An die Heizung gekettet: Das Buchcover.
An die Heizung gekettet: Das Buchcover.

© Reprodukt

Umso näher sind wir dem Protagonisten, der aus der Ich-Perspektive erzählt, während seiner Gefangenschaft (wiewohl es auch hier viele Draufsichten gibt). Wir erleben die Enge des Raumes, den drohenden Verlust des Zeitgefühls, die Eintönigkeit des Tagesablaufs, die zu nichts führenden Spekulationen über die Außenwelt – vor allem über den Fortgang der Bemühungen zu seiner Befreiung – die Versuche, sich mit Erinnerungen an berühmte Schlachten und Generäle geistig zu beschäftigen. Unterstrichen wird dies mit einer Farbgebung, welche die Tage nur etwas weniger düster erscheinen lässt als die Nächte.

Die Eintönigkeit von Christophes Leben in Gefangenschaft wird zu der unsrigen, auch weil die Identifikation mit der Geisel sehr leicht fällt: So wie er möchte man sich in einer solchen Grenzsituation auch verhalten können. Er biedert sich nicht an, er bittet um nichts. Schon gar nicht entwickelt er Verständnis für die Motive seiner Entführer, er verschwendet tatsächlich nur wenig Gedanken daran.

Zwar entwickelt er Gewaltphantasien vis-à-vis seiner Bewacher – mit dem Ziel, sich zu befreien – aber eben keinen essentialistischen Hass. Er bleibt nüchtern und besonnen und erhält Recht, denn so wie muslimische Tschetschenen ihn entführt haben, so helfen ihm am Ende auch muslimische Tschetschenen bei der Flucht. Ein großartiges Buch.

Guy Delisle: Geisel, aus dem Französischen von Heike Drescher, Lettering: Olav Korth, Reprodukt, 432 Seiten, 29 Euro.

Vom 20. bis 28. März ist Guy Delisle auf Lesereise in Deutschland:
Montag, 20. März, 20 Uhr: Stuttgart, Stadtbibliothek / Café Lesbar, Mailänder Platz 1, 70173 Stuttgart, Eintritt: 5 Euro, ermäßigt 3 Euro
Dienstag, 21. März , 19.30 Uhr: Frankfurt, Haus am Dom, Domplatz 3, 60311 Frankfurt am Main, Eintritt: 5 Euro, ermäßigt 4 Euro
Donnerstag, 23. März, 20 Uhr: Berlin, ExRotaprint, Projektraum, Gottschedstraße 4, 13357 Berlin, Eintritt: 5 Euro, ermäßigt 3 Euro
Freitag, 24. März, 20 Uhr: Leipzig, Institut français, Thomaskirchhof 20, 04109 Leipzig, Eintritt frei
Samstag, 25. März, 12-12.30 Uhr: Leipziger Buchmesse, ARTE-Podium, Glaskasten, Empore. 15-15.30 Uhr: Leipziger Buchmesse, Forum “Die Unabhängigen”, Halle 5. 20.30 Uhr: Leipzig, Institut français, Thomaskirchhof 20, 04109 Leipzig, Eintritt: frei

Thomas Greven

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false