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Tragisch, chaotisch: Eine der Strafaktionen, an denen der Ich-Erzähler beteiligt war.

© Edition Moderne

Geschichte im Comic: Mit Begeisterung in die Katastrophe

Leidenschaftlich, detailgetreu, lehrreich: Die Graphic Novel „Ein Leben in China“ schildert ein dunkles Kapitel in der chinesischen Geschichte, das bis heute nicht richtig aufgearbeitet worden ist.

Die sechs Monate alte Tochter des Nachbarn kann schon „Lang lebe Mao“ sagen, behauptet die Propaganda. Das Baby Xiao Li hingegen brabbelt nur vor sich hin – sehr zur Enttäuschung des Vaters, des örtlichen Parteisekretärs. Doch Xiao Li wird noch früh genug „mao zhuxi wansui“ sagen lernen, denn der Große Vorsitzende und seine mörderischen Kampagnen werden ihn seine gesamte Jugend lang begleiten.

In der leidenschaftlich erzählten und detailgetreu gezeichneten Graphic Novel „Ein Leben in China – die Zeit meines Vaters“ schildert der chinesische Zeichner Li Kunwu, unterstützt vom französischen Koautor Philippe Autier alias P. Otié, sein Aufwachsen in China während des „Großen Sprung nach vorn“ und der Kulturrevolution. Beide Kampagnen forderten Millionen von Toten und sind bis heute in China nicht umfassend aufgearbeitet. Es ist ein großes Verdienst dieser Graphic Novel, dem Leser anschaulich beizubringen, wie es zu diesen Katastrophen kommen konnte. Und wie begeistert die Jugend mitmachte.

Die größte selbstverursachte Hungersnot der Menschheit

Xiao Li, so der Name des Autors in dem Buch, hilft beim „Großen Sprung nach vorne“ (1958 – 1961) eigenhändig mit, Metall zum Einschmelzen für die Hochöfen zu sammeln. Auf diese Weise wollte China die Stahlproduktion Großbritanniens übertreffen und auch die USA einholen. Anschaulich zeigt Li Kunwu, wie auch die Wälder rund um Kunming abgeholzt wurden, um die Hochöfen zu befeuern. Während die Propaganda neue Rekorde bei der Stahl- und Getreideproduktion feiert, erlebt Xiao Li den Beginn der größten selbstverursachten Hungersnot der Menschheit.

Kritik und Selbstkritik. Eine Szene aus der Zeit der Kulturrevolution (1966 – 76).
Kritik und Selbstkritik. Eine Szene aus der Zeit der Kulturrevolution (1966 – 76).

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Dabei vermeiden es die Autoren zumeist, das Grauen in seinen Details zu zeigen. Stattdessen beschreiben sie die kleinen und großen Veränderungen im Leben Xiao Lis. Wie die Eltern die Kinder immer später von der Schule abholen, weil sie offenbar mit der Nahrungssuche beschäftigt sind. Oder wie ein Onkel geisteskrank wird, nachdem er seine eigene Herde und seinen Hirtenhund aufgegessen hat.

Auch im zweiten Kapitel, der Kulturrevolution (1966 – 76), schließt sich Xiao Li den Roten Garden bereitwillig und euphorisch an. Die tragischen Auswirkungen der chaotischen Kampagne, die den andauernden Klassenkampf propagierte, fallen ihm erst allmählich auf. Die Autoren müssen schon einen Rückblick bemühen, um deutliche Kritik an der Kulturrevolution zu äußern. „Tatsächlich aber würde ich heute viel dafür geben, nur einige wenige der historischen Meisterwerke auferstehen zu lassen, die ich in der Sorglosigkeit meiner Jugend zerstört habe“, sagt Xiao Li im Alter.

„Ein Leben ohne Mao – wie soll das gehen?“

Die Graphic Novel, die der erste Band einer aus drei Teilen bestehenden Erzählung ist, endet mit dem Tod Mao Zedongs 1976. „Vorsitzender Mao“, sagt Xiao Li, mittlerweile Soldat der Volksbefreiungsarmee, „ein Leben ohne dich – wie soll das gehen?“ Er bringt damit das damalige Lebensgefühl einer ganzen Generation zum Ausdruck.

Lebendige Geschichtsstunde: Das Cover des Buches.
Lebendige Geschichtsstunde: Das Cover des Buches.

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„Ein Leben in China“ ist eine lebendige Geschichtsstunde für alle China-Interessierten. Wer sich noch nicht eingehender mit der Historie des Reichs der Mitte von 1958 bis 1976 auseinandergesetzt hat, wird womöglich nicht jede Zeichnung oder jeden kommunistischen Wahlspruch nachvollziehen können. Dafür erhält er auf leichte Weise einen lehrreichen ersten Einblick in Chinas Geschichte. Und China-Kenner werden sich an den zahlreichen, mit großer Leidenschaft gezeichneten Details erfreuen.

Li Kunwu / Philippe Autier: Ein Leben in China, Band 1: Die Zeit meines Vaters, Edition Moderne, 256 Seiten, 24 Euro. Die Folgebände 2 und 3 erscheinen im Frühjahr und Herbst 2013.

Benedikt Voigt, der Autor dieser Rezension, war bis Ende 2012 Chinakorrespondent des Tagesspiegels.

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