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Kleine Flucht: Eine Szene aus dem Buch.

© Splitter

Graphic Novel: Das kann doch nicht alles gewesen sein

Étienne Davodeaus Graphic Novel „Lulu – Die nackte Frau“ setzt auf ruhigen Realismus statt schneller Effekte. Gerade das macht seine Schilderung eines Ausstiegs aus dem Alltag spektakulär.

Das Leben der meisten Menschen gliedert sich in ähnliche Abschnitte. Zuerst lernt man es Schritt für Schritt unter mehr oder weniger kenntnisreicher Anleitung kennen, um schon bald sein neu erworbenes Wissen darüber auszuprobieren. Schließlich fällt eine Entscheidung über die weitere Gestaltung, eventuell ist auch das Gründen einer Familie Teil der weiteren Lebensplanung. Damit mag der Wunsch nach regelbarem Alltag sowie finanzieller Absicherung einhergehen - der Rest ist dann schlicht Routine.

Doch Routine betäubt. Sie sediert einen mitunter so lange, bis man sich an einem unbekannten Ort wiederfindet, ohne jegliche Ahnung davon, dass er einem bisher gefehlt haben mag. Von dieser Situation handelt Étienne Davodeaus Comic „Lulu – Die nackte Frau“.

Als sie zu einem Vorstellungsgespräch erscheint, wird Lulu schmerzlich bewusst gemacht, dass sie anderthalb Jahrzehnte mit dem Aufziehen ihrer drei Kinder verbracht und somit keine ideale Erwerbsbiografie vorzuweisen hat. In einer Tretmühle aus Pflichten gefangen, fühlt sich die Mittvierzigerin ausgelaugt und um ein aufregenderes Leben betrogen.

Und nun tut Lulu etwas, von dem vermutlich viele Menschen in der Lebensmitte träumen, was aber nur wenige umzusetzen wagen: Sie verweigert sich fortan dem langweiligen Einerlei und kehrt nicht zu ihrer Familie zurück. Lulu lernt neue Menschen kennen, lässt sich auf eine Affäre ein und erfährt die Unwägbarkeiten eines Lebens ohne Alltagsstrukturen. Nicht in letzter Konsequenz allerdings, telefonisch hält sie sporadischen Kontakt zu ihrer Familie.

Raus aus der Tretmühle: Eine Szene aus dem Buch.
Raus aus der Tretmühle: Eine Szene aus dem Buch.

© Splitter

Klingt alles nicht sehr spektakulär, ist es aber trotzdem. Und zwar in zweierlei Hinsicht: Wer eine derart radikale Lebensveränderung selbst versucht, stößt oft schnell an seine Grenzen. Und die Gefahr, bei einem derartigen Stoff nicht thematisch in den Niederungen eines seichten Midlife-Crisis-Dramoletts zu landen, wie sie Belletristik, TV und Kino zu Hauf bevölkern, ist ebenfalls groß.

Letzteres vermeidet der 1965 in Frankreich geborene Künstler Étienne Davodeau in seinem deutschen Debüt. Im Ausland bereits mehrfach für seine bisherigen Werke ausgezeichnet, erhielt er unter anderem 2009 in Angoulême den ‚Prix Essentiel‘ des dortigen Comicfestivals.

Davodeaus Charaktere wirken glaubhaft und angenehm frei von Klischees. Ihre physischen Attribute folgen keinem gängigen Schönheitsideal, sie reflektieren den Durchschnitt. Wobei dieser Realismus hier auch durch die Art der Darstellung auf eine prozessgemäße zweite und schmerzliche Definition von ‚wachsen‘ hindeutet: Nicht nur Äußerlichkeiten verändern sich, sondern auch Lebensumstände und damit vermeintliche Sicherheitsgarantien. Idealisierte Landschaften, die aus dem Wunsch Lulus nach Veränderung erwachsen, demonstrieren unterschwellig die Weltsicht und Empfindungen der Hauptfigur. Durch den Kniff, diese aber durch die Allerweltsgesichter der Protagonisten zu kontrastieren, entsteht eine dramatische Fallhöhe, die den Verlauf der Geschichte unberechenbar macht und das Ende unabsehbar.

Deutsches Debüt: Das Buchcover.
Deutsches Debüt: Das Buchcover.

© Splitter

Diese häufiger von Davodeau eingesetzte Abbildungsweise illustriert zudem das schöpferische Potenzial, das sehnsüchtigen Empfindungen mitunter innewohnen kann. Die warmen und natürlichen Farbtöne, die viel zwischen Ocker und Orange changieren, bewirken eine Wärme, die den Wagemut der Figuren behutsam unterstützt - wie auch immer wieder wortlose Sequenzen und das Weglassen von Hintergründen Stimmungen explizit hervorheben und dadurch ein unaufgeregtes Erzähltempo bewerkstelligen. Selbst ein Todesfall erhält durch die angemessene Einbettung in den Gesamtrahmen und den unverkrampften, aber nicht respektlosen Umgang der Figuren damit eine Natürlichkeit innerhalb der Struktur von Davodeaus Geschichte, die den Realitäten des Lebens nahekommt.

So mag man „Lulu – Die nackte Frau“ von der Thematik her zwar zu Recht als Fluchtliteratur bezeichnen, doch das Ausfabulieren von eskapistischen Inhalten überlässt Davodeau lieber anderen Kollegen.

Étienne Davodeau: „Lulu – Die nackte Frau“, Splitter, aus dem Französischen von Tanja Kräming, 160 Seiten, 24,80 Euro. Leseprobe auf der Website des Verlages.

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