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Grandioser Fiebertraum: Eine Doppelseite aus dem Buch.

© Archaia Entertainment. 2011 The Jim Henson Company

Graphic Novel: Surrealer Wüsten-Trip

Seine Muppets sind gerade wieder einmal in aller Munde. Jetzt erscheint mit „Tale of Sand” Jim Hensons einziges vollendetes, jedoch nie als Film realisiertes Drehbuch als außergewöhnliche Graphic Novel.

Jim Henson (1936-1990) hat der Welt viel hinterlassen. Nicht nur, dass er mit seiner Firma und seinen Visionen mehr als eine Generation lang Filme, Fernsehshows und Werbespots geprägt hat. Mit den Muppets und den Bewohnern der Sesamstraße schuf er in den 70ern darüber hinaus einige denkwürdige Ikonen der Popkultur, die bis heute kaum etwas von ihrer Beliebtheit eingebüßt haben.

Bevor Henson sich jedoch Kermit, Samson und Co. zuwandte, schuf er in den 60ern einige mindestens so experimentelle wie durchgeknallte Kurzfilme. Etwa „The Cube“ oder „Time Piece“, für den es sogar eine Oscar-Nominierung gab. In der Folge machten sich Henson und sein Langzeit-Kollaborateur Jerry Juhl einige Gedanken über einen ähnlich getakteten Spielfilm, der die Stärken, Themen und Verrücktheiten von „Time Piece“ aufgreifen und fortspinnen sollte. Juhl war ursprünglich als Autor und Puppenspieler zum Team um Jim Henson und Frank Oz dazugestoßen, verlegte sich bald aber ausschließlich aufs Schreiben und wirkte später nicht nur an vielen Folgen der „Muppet Show“ oder „Die Fraggles“ mit, sondern schrieb auch an den Drehbüchern zu einigen der Muppet-Spielfilmen.

Das Film-Script zu „Tale of Sand“, das in den Jahren vor diesen großen Erfolgen entstand und von Henson und Juhl bis 1974 noch drei Mal überarbeitet wurde, sollte allerdings nie realisiert werden. Der Aufstieg der „Muppet Show“ sorgte schließlich für eine deutliche Verlagerung der Interessen, zumal Hensons Agent mehrfach erfolglos versucht hatte, das Filmdrehbuch zu verkaufen. So blieb „Tale of Sand“ das einzige vollständige Film-Script, das Henson Zeit seines Lebens als Autor abschloss – und wanderte lautlos in die Archive der berühmten Jim Henson Company, die Henson bereits 1958 gegründet hatte und die inzwischen Niederlassungen in New York, Los Angeles und London besitzt.

Als die gegenwärtige Firmen-Archivarin Karen Falk das verschollene Drehbuch ausgrub, sei das „wie das Finden eines Schatzes gewesen“, schreibt Hensons Tochter Lisa, heute Geschäftsführerin der Jim Henson Company, im Nachwort zum Comic.

Bizarr, aber durch und durch Henson

Darin hat der kanadische Comic-Künstler Ramón K. Pérez das aus den Archiven geborgene Script mit dem Segen von Hensons Erben als surrealen Graphic-Novel-Trip umgesetzt. „Mit der Anfrage, ob ich den Comic machen möchte, bekam ich die ersten zehn Script-Seiten“, erzählt Pérez. „Ich war sehr aufgeregt und fragte nach dem Lesen, ob ich mehr vom Script sehen könnte. So kam ich in den Genuss der ganzen Lektüre. Es war eine bizarre Story“, beschreibt der 1973 geborene Künstler seinen ersten Leseeindruck. „Allerdings war es auch durch und durch Henson, und es fühlte sich richtig an. Mein Bauchgefühl riet mir, vorzusprechen, und das tat ich.“ Lisa  Henson und Archaia-Chefredakteur Stephen Christy trafen schließlich ihre Wahl, und damit konnte der Spaß beginnen und Pérez loslegen.

Visionär: Jim Henson (1936-1990).
Visionär: Jim Henson (1936-1990).

© Wikipedia

„Als ich aufwuchs, war ich ein großer Fan der Muppet Show“, erzählt Perez über seine erste Berührung mit dem Werk von Jim Henson. „Der schräge Sinn für Humor und die Mätzchen der Charaktere haben immer in mir nachgehallt. Fozzie Bär, Sweetums und Beaker waren meine Lieblinge, und Gonzo fand ich einfach ulkig.  Die Sesamstraße mochte ich genauso, mit Oscar, Grobi und dem Krümelmonster. Das sind alles Sachen, denen ich bis zu einem gewissen Grad meine merkwürdige Vorstellungskraft zu verdanken habe.“

Genau diese merkwürdige Vorstellungskraft brauchte es am Ende wohl auch, um „Tale of Sand“ als Comic umzusetzen. Dank der abgefahrenen Story kann Pérez zeichnerisch alles auffahren, was er etwa an „Star Wars“ oder „Deadpool Team-Up“ sowie seinem witzigen Webcomic „Butternutsquash“ bisher nicht zeigen konnte. Pérez brach das Drehbuch dabei nicht erst Seite für Seite oder Panel für Panel in ein Comic-Script um, sondern adaptierte die Vorlage direkt. „Der Storyboard-Prozess hat ungefähr fünf Tage in Anspruch genommen, dazu kamen diverse Überarbeitungen. Wir mussten die Seitenzahl reduzieren, da ich ursprünglich auf 170 Seiten gekommen war! Meine Hauptsorge war aber, den Schöpfern der Geschichte gerecht zu werden. Ich wollte der vibrierenden Stimme von Jim Hensons Arthouse-Filmen in der Durchführung treu bleiben“, erläutert der Zeichner. „Es war ein fantastisches Erlebnis, meine eigene Erfahrung als Geschichtenerzähler zu nehmen, um einen Mann zu kanalisieren, der 20 Jahre zuvor schon eine Inspiration für mich gewesen ist.“

Rorschach-Test für Terry Gilliam

„Tale of Sand“ ist eine abgedrehte, schwer durchschaubare Hatz durch eine Wüste, die auch ohne Disney-Einfluss vor Leben nur so summt und brummt – so sehr, dass sich die Realität ständig verbiegt, während sie sich Hensons und Juhls entfesselter Vorstellungskraft beugt. In der von Pérez zum Leben erweckten Sandlandschaft gibt es zwar auf den ersten Blick keinen gar so straffen roten Faden oder allzu viele Erklärungen; dafür aber haifischverseuchte Swimmingpools, gefährliche femme fatales, Löwen in Limousinen, schräge alte Ladys mit Golfcaddies, monströse Footballspieler, orientalische Krieger, Eiswürfel-Lieferanten, Gebrauchtwagenhändler und die eine oder andere gesellige Zusammenkunft, die sich hinter unscheinbaren Türen verbirgt. Das Absurde kennt und akzeptiert in der quicklebendigen Wüste einfach keine Grenzen – Terry Gilliam würde sich hier zweifellos ausgesprochen wohl fühlen und mit Grant Morrison einen Tee trinken.

Muppet-Fan seit Kindertagen: Ramón Perez.
Muppet-Fan seit Kindertagen: Ramón Perez.

© Michelle Siu, michellesiu.wordpress.com

Peréz selbst bezeichnet die „faszinierende Geschichte mit einfacher Oberfläche und so viel mehr in der Tiefe“ inzwischen sogar als „Rorschach-Test für den Leser, der sieht, was er sehen möchte, und hineininterpretiert, was er will.“ In der optisch alles andere als staubtrockenen Wüste trumpft der Kanadier dann auch ganz groß auf, während sich die relativ textarm adaptierte, rasante Geschichte in ihrer Comic-Umsetzung stark auf sein visuelles Storytelling verlässt und dabei nicht ein einziges Mal baden geht. Oft wird die bunte Handlung sogar auf extrem dynamischen Doppelseiten erzählt, die im großformatigen US-Hardcover entsprechend gut zur Geltung kommen und zur Faszination der innovativen Lektüre beitragen. Obwohl es nur wenige Sprechblasen gibt, verweilt man entsprechend lange auf den Seiten, auf denen es stets viel zu entdecken gibt. Vor lauter Staunen und Vielseitigkeit kann man da auch schon mal das Umblättern vergessen.

Surrealer Sandsturm

Wenig Text, viel Surreales – „Jim Henson’s Tale of Sand“ liest man nicht nur ein einziges Mal. Dafür ist dieser in grandiosen Bildern und Seitenkompositionen eingefangene Fiebertraum auch ohne trickreiche Puppen viel zu kurios und außergewöhnlich. Allerdings muss man den über mehrere Dekaden hinweg entstandenen Sandsturm aus wild zusammengewürfelten Elementen, Wendungen und Haken keineswegs auf Anhieb verstehen oder Henson und Juhl am fiktiven Panel-Set in der Wüste sofort erkennen, um zu durchschauen, dass die Comic-Realisierung des unkonventionellen Drehbuchs in erster Linie eine Hommage an Jim Henson ist – an diesen unermüdlichen, innovativen Pionier der Unterhaltungsindustrie, dem die Grenzenlosigkeit der Vorstellungskraft so viel bedeutet hat.

Innovative Lektüre: Das Cover des Buches.
Innovative Lektüre: Das Cover des Buches.

© Archaia Entertainment. 2011 The Jim Henson Company

„Stephen Christy sagte während der Arbeit oft, dass Jim über unsere Schulter blicken würde“, rückt letztlich auch Pérez die Arbeit an „Tale of Sand“ in diesen huldigenden Kontext. „Ich glaube, er hatte Recht – und dass Jim und Jerry stolz auf uns wären.“

Jim Henson/Jerry Juhl/Ramón Pérez: Jim Henson’s Tale of Sand, englischsprachiges Hardcover, 160 Seiten, Archaia, rund 20 Euro.

Der Blog unseres Autors Christian Endres findet sich hier: www.christianendres.de.

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