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Verbale Abrechnung: Eine Seite aus „Lauras Lied“.

© Schreiber & Leser

Graphic Novels: Die Kraft der Worte

Erzählen, um zu überleben: In Thierry Murats beeindruckenden Comic-Adaptionen „Lauras Lied“ und „Der Mörder weinte“ reden sich die Protagonisten ihr Trauma von der Seele.

Es gibt Geschichten, die dringen in einer Intensität in unser Bewusstsein ein, dass sie nicht schnell wieder in Vergessenheit geraten können. Von dem französischen Illustrator und Comic-Zeichner Thierry Murat sind mit „Der Mörder weinte“ und „Lauras Lied“ gerade zwei solcher bemerkenswerten Geschichten erschienen. Beide Comicbände sind Adaptionen zweier Romane, die bereits vor Jahren erschienen sind und jeweils ein kindliches Trauma in den Mittelpunkt stellen.

Die Comicbände verbindet ein Thema, dass bei der Übersetzung (von Resel Rebiersch) der französischen Originaltitel verloren geht: das Weinen. „Des Mörders Tränen“ und „Sie weint nicht, sie singt“ lauten die Titel wortwörtlich übertragen. Wer erwartet, dass hier durch frühkindliche Traumata kräftig auf die Tränendrüse gedrückt würde, der sieht sich getäuscht. Thierry Murat entzieht in der zeichnerischen Inszenierung diesen beiden Kindertragödien das Potenzial der Weinerlichkeit. Statt anzurühren will er aufrütteln.

Die Geschichten, die Thierry Murat hier erzählt, sind die dramatischen Berichte der beiden tragischen Helden Laura und Paolo. Ihre Geständnisse sind Teil der Bewältigung eines Traumas, das sie vor Jahren ereilt hat und von dem sie hier Zeugnis ablegen. Bei Laura heißt dieses Trauma Kindesmissbrauch, bei Paolo geht es um den gewaltsamen Tod seiner Eltern, den er mit ansehen musste.

Eine verbale Abrechnung

„Lauras Lied“ beginnt damit, dass die Erzählerin Laura am Telefon erfährt, dass ihr Vater einen Autounfall gehabt habe und im Koma liege. Sie macht sich auf den Weg zu ihrer Mutter, sich nicht im Klaren darüber, ob das eine gute Idee ist. Denn schließlich muss die Mutter doch davon geahnt haben, dass Lauras Vater mit ihr Dinge gemacht hat, die Väter nicht mit ihren Töchtern machen. Das kann sie unmöglich jahrelang ignoriert haben, hat sich als mit schuldig gemacht, geht es ihr während der Fahrt durch den Kopf.

Entgegen ihren Erwartungen besucht sie sogar ihren Vater im Krankenhaus. Eine Schwester sagt ihr im Gehen, dass es ihm gut tun könnte, wenn sie ihn regelmäßig besuche und zu ihm spreche. Eine Chance? Ja! Endlich kann sie sich den Ekel und den Hass von der Seele reden und ihre Fassungslosigkeit loswerden, die sie seit Jahren umtreibt und ihr jede Zuneigung unerträglich werden lässt. „Ich will nicht dass du stirbst. Im Gegenteil, du sollst leben. Und zwar solange, bis ich alles gesagt habe.“ Eine verbale Abrechnung voller offener Fragen und längst formulierter Anklagen beginnt.

Aufrüttelnd: Eine Szene aus „Lauras Lied“.
Aufrüttelnd: Eine Szene aus „Lauras Lied“.

© Schreiber & Leser

Für „Lauras Lied“ holte sich Thierry Murat hochkarätige Unterstützung. Der Franzose Eric Corbeyran, der bereits Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“ adaptierte und dutzende Comics entworfen hat, schrieb für Murats Adaption das Szenario. Der aufwühlenden Geschichte setzen sie einen klaren, schnörkellosen und konfrontativen Comicentwurf entgegen. Sie wollen mit ihren Zeichnungen nicht die Schwere des Erzählten zerstreuen. So sorgen sie in dem emotionalen Chaos der Erzählerin zumindest für etwas visuelle Ordnung, geben der Sprachlosigkeit den Raum, den die Erzählung erfordert.

An manchen Stellen wirkt dies allerdings auch etwas hilflos, als hätten Murat und Corbeyran keinen Rat gewusst, wie man das Unfassbare in Bilder übertragen kann. Dann verlieren sich die Zeichnungen in Serien von Nahaufnahmen und Details, während am oberen Bildrand der anklagende Monologtext im Tickerstil entlangläuft. Die Beklemmung, von der sie erzählen wollen, scheint sie in diesen Passagen selbst beschlichen zu haben. Und dennoch ist „Lauras Lied“ ein beeindruckender Comic, der allerdings eher vom Sujet als von seiner Bildsprache lebt.

Was Murats zweite Literaturadaption von „Lauras Lied“ unterscheidet, lesen Sie auf der nächsten Seite.

Gekommen, um zu bleiben: Eine Seite aus „Der Mörder weinte“.
Gekommen, um zu bleiben: Eine Seite aus „Der Mörder weinte“.

© Schreiber & Leser

Doppelschlag: Die Cover der beiden Bände.
Doppelschlag: Die Cover der beiden Bände.

© Schreiber & Leser

Auf den ersten Blick unterscheidet sich „Der Mörder weinte“ nicht wesentlich von „Lauras Lied“. Auch hier herrscht ein geradezu formalistischer Umgang mit den Elementen des Comics vor. Auf Sprechblasen hat Murat hier sogar komplett verzichtet, Erzähl- und Sprechtext stehen im Schreibmaschinenstil über den Panels oder sind direkt ins Bild gedruckt. Auf zeichnerische Details wird hier wie schon in „Lauras Lied“ verzichtet.

Auf den zweiten Blick allerdings hat die konkrete Ausführung der Comic-Elemente in „Der Mörder weinte“ viel stärker erzählerische Funktion, als dies in „Lauras Lied“ der Fall ist. Der Verzicht auf Sprechblasen ist kein Hinweis dafür, dass die Zeichnung hinter den Text treten soll, sondern ist in der Absicht erfolgt, die wenigen Worte, die hier direkt geäußert werden, nicht noch in einen Rahmen zu zwängen. Sie erhalten derart eine besondere Betonung, fallen aus dem Bild und dem Leser ins Auge und erhöhen so dessen Aufmerksamkeit. Die Zeichnungen in „Der Mörder weinte“ sind weniger rein und aufgeräumt ausgeführt, als in „Lauras Lied“. Ihre Unschärfe symbolisiert als gezeichnete Allegorie die raue Umgebung, in der die Geschichte des kleinen Paolo spielt.

In der weiten Steppe Patagoniens wächst Paolo auf, der von sich selbst sagt, er sei „das Produkt der Routine im Ehebett meiner Eltern“. So rau wie die Landschaft ist seine Erziehung. Eines Tages kommt ein fremder Mann in die Einöde fernab aller Zivilisation. Angel Allegria ist ein geflohener Schwerverbrecher, wie sich bald herausstellen wird. Kurz nach seiner Ankunft bringt er Paolos Eltern um: „Angel Allegria war es leid, jeden Morgen weiter nach Süden ausweichen zu müssen. Er hatte gehört, dass unser Haus das letzte vor der Wüste und dem Meer wäre. Das ideale Versteck für einen Mörder auf der Flucht. Hier wollte er ausruhen.“ Paolo blieb verschont, Allegria schenkte ihm das Leben.

Steinernes Herz

Von diesem Leben erzählt Murat in „Der Mörder weinte“. Er lässt Paolo berichten, wie er mit dem Mörder seiner Eltern zusammenlebt, wie dieser sein steinernes Herz für den Jungen langsam und vorsichtig öffnet. Paolo und Angel Allegria richten es sich auf eine ruppig-liebenswerte Art miteinander ein. Sie scheinen aneinander den Halt und die Hoffnung zu finden, die sie vorher nie verspüren konnten. Das blutige Verbrechen Allegrias wird zum Moment des Neuanfangs für beide im Schutz der Einsamkeit. Schicksalhaft scheinen sie aneinander gebunden, auch als sie die Einöde verlassen müssen. Ein heikles Unterfangen, zumindest für den gesuchten Verbrecher Angel Allegria. Ihre Geschichte liest sich wie eine Variante von Bonnie und Clyde, die fast ebenso tragisch endet, wie die Irrfahrt des berühmten Verbrecherpärchens.

Der Ton des kleinen Paolo ist alles andere als kindlich. Nüchtern, fast distanziert erzählt er seine Geschichte. „Der Mörder weinte“ ist keine empörte Anklage, sondern vielmehr die stille Erzählung einer Rettung. Über diese scheint Thierry Murat eine größere Souveränität gewonnen zu haben, als über Lauras Anklage. Die ruhige Text-Bild-Grammatik in „Der Mörder weinte“ verstärkt die Wirkung der Erzählung, lässt im richtigen Moment den Blick schweifen und den Leser durchatmen oder fokussiert die Aufmerksamkeit auf das Erzählte. Entstanden ist so ein intensives Epos, das nicht vom Lärm der Verbitterung getragen wird, sondern seine bemerkenswerte Kraft aus der Einsamkeit und Stille zieht, die aus den Seiten aufsteigt.

„Lauras Lied“ und „Der Mörder weinte“ sind zwei grundverschiedene Erzählungen mit der Schnittmenge des kindlichen Traumas, die beide jedoch nicht einfach nur von diesem erzählen, sondern durch die Erzählung diese bewältigen. Ihre Lektüre bestätigt die psychotherapeutische Binse der Kraft der Worte. Comics leben jedoch insbesondere auch von der Stärke der Bilder und des Bildrhythmus. Diesen Aspekt in den Vordergrund gestellt, ist „Der Mörder weinte“ von beiden Titeln der überzeugendere und attraktivere.

Thierry Murat & Eric Corbeyran: Lauras Lied, aus dem Französischen von Resel Rebiersch, nach einem Roman von Amélie Sarn, Schreiber & Leser, 104 Seiten, 18,30 Euro.
Thierry Murat: Der Mörder weinte, aus dem Französischen von Resel Rebiersch, nach einem Roman von Anne-Laure Bondoux, Schreiber & Leser, 128 Seiten, 18,80 Euro.

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