zum Hauptinhalt
Evolutionär: Eine Seite aus dem besprochenen Buch.

© Carlsen

Jens Harders „Beta …civilisations“: Jäger und Briefmarkensammler

Mitten in der Evolution: Der Berliner Comiczeichner Jens Harder legt mit „Beta …civilisations“ die Fortsetzung seiner Erdgeschichte vor. Darin führt er souverän aus der Kreidezeit in die Antike und erzählt, wie aus Baumbewohnern Menschen wurden.

Es gibt Projekte, für die braucht es einen langen Atem – sowohl beim Autor als auch bei seiner Leserschaft. Jens Harders auf drei Bände angelegte Evolutionsgeschichte ist so ein Projekt. 2009 erschien mit „Alpha …directions“ der mehrfach ausgezeichnete erste Teil seiner ambitionierten Bilderhistorie. Viereinhalb Jahre später ist nun der erste Teil des Folgezyklus „Beta …civilisations“ erschienen. Unklar ist noch, wie viele Jahre es nun dauern wird, bis der zweite Teil von „Beta“ sowie der Abschluss der Erdtrilogie „Gamma …visions“ fertig sein werden.

„Alpha“ endete mit einem Ausblick auf das Menschenzeitalter. Auf der letzten Doppelseite des ersten Bandes sah man einen Urmenschen, der einen Speer von sich weg in die Geschichte des Menschenzeitalters hinein schleuderte. Dieser Speer war die Vorhut für den „Beta“-Zyklus, der sich mit der Entwicklung des Menschen aus der Steinzeit bis in die Moderne beschäftigen soll. Der erste von zwei Teilen liegt seit kurzem in den Buchläden.

Aus Afrika um die ganze Welt

Der Berliner Comicautor setzt in seinem neuen Werk nicht direkt bei der menschlichen Evolution an. Wir befinden uns auf den ersten Seiten am Ende der Kreidezeit vor 65 Millionen Jahren und sehen, dass der Planet Erde noch fest im Griff der enorm vielfältigen Flora und Fauna war. Die Zukunft aber sollte den Nachkommen der rattenartigen, insektenfressenden Baumbewohner aus der Familie der Mamalia gehören. In großen Schritten führt Harder diese Baumbewohner erst von den Bäumen herunter und dann hinaus aus dem Areal des schützenden Blätterdachs der Urwälder. Um der Gefahr auf dem offenen Gelände zu entgehen, richten sich diese Vorfahren des Menschen auf und schließen sich zu Horden zusammen, die nach und nach den afrikanischen Kontinent für sich erobern.

Von Anfang an spielt das Spiegeln der modernen Zivilisation und ihrer Kulturgeschichte in der historischen Erzählung von „Beta 1“ eine größere Rolle als im Vorgängerband. Entsprechend streut Harder immer wieder Ausblicke und Perspektiven zwischen die evolutionären Beschreibungen, widmet ganze Doppelseiten für enorme Zeitsprünge, um zu zeigen, wohin die Befähigung des Menschen zu denken (Philosophie), Waffen zu bauen (Krieg) oder das Feuer zu beherrschen (Atombombe) führen können. Man mag diese erzählerischen Stauchungen und dramaturgischen Zuspitzungen als verkürzt und tendenziös kritisieren, tatsächlich sind sie aber punktgenaue Deutungen des Weltenlaufs, wie sie erst in der Retrospektive bewusst werden können.

Zwischen Steppe und Supermarkt

Harder führt seinen staunenden Lesern auf engstem Raum die irrsinnige Weiterentwicklung der menschlichen Fähigkeiten vor Augen. Indem die Lesenden ihren Blick über die perfekt komponierten Doppelseiten schweifen lassen, reisen sie im Zeitraffer durch die Geschichte der (Selbst-)Ermächtigung des Menschen und seiner Errungenschaften. Es geht in Sekunden von der luftigen Reisigbehausung zum höchsten Turm der Welt, von der Fellbekleidung zur Haute Couture, vom Jäger und Sammler zum Drohnenkrieger und Philatelisten.

Runter vom Baum: Eine Seite aus dem besprochenen Band.
Runter vom Baum: Eine Seite aus dem besprochenen Band.

© Carlsen

Neben den natürlichen Prozessen der Evolution widmet sich Harder vor allem den kultur- und geistesgeschichtlichen Fortschritten, die aus der Vielzahl der Horden Zivilisation machen. Ausgehend von den wachsenden sozialen Beziehungen kommt er auf die Bedeutung von Mimik, Gestik und Lautgebung als Grundlagen der Kommunikation zu sprechen. Auf wenigen Seiten verdichtet er sprachliche Aspekte wie Theater, Film, Gebärdensprache, Musik, Funk und Telefonie mit den anatomischen und kognitiven Grundlagen zu einer vielsagenden Bildersymphonie der menschlichen Kommunikation. Am Ende dieser Kulturgeschichte des Sozialen finden wir uns vor dem zerstörten Turm zu Babel wieder – eine Allegorie auf das kommunikative Scheitern, das Krieg und Gewalt täglich bezeugen.

Die Hälfte dieser opulenten Bildgeschichte ist erreicht, als „das bei Weitem gefährlichste Raubtier der Erde mit dem leistungsfähigsten Gehirn“ am Entstehen begriffen ist. Dieses Raubtier machte sich vor 200.000 Jahren auf und verließ seinen Heimatkontinent Afrika in alle Himmelsrichtungen. Das Sinnbild ist der in die leere Steppe hinausschreitende Urmensch, der sich Jahrtausende später in einem endlos sinnentleerten Supermarkt wiederfindet. Diese symbolischen Kompositionen machen die Evolutionstrilogie zu mehr als zu einer bildhaften Verarbeitung natürlicher Prozesse.

Plagiierte Harder andere Künstler? Ein unsinniger Vorwurf

Im weiteren evolutionären Verlauf macht sich der Mensch die Natur in einer kaum vorstellbaren Art und Weise Untertan. Er wird sesshaft, beginnt zu planen, zu bauen, zu züchten, zu säen, zu ernten und zu bunkern, aber auch Rituale wie Gottesdienste und Totenkulte zu entwickeln. Die symbolträchtigste Entwicklung in Harders Weltgeschichte ist die des Rads, weil es „eine Gesellschaft sehr unmittelbar und im wahrsten Wortsinn voran[bringt]“. Das Rad treibt die historische Erzählung auch bis in die Frühantike, in der sich andeutet, was an geistesgeschichtlicher Aufarbeitung in dem diesen zweiten Zyklus abschließenden Band „Beta 2“ auf den Autor und seine Leser zukommt.

Feuer und Eis: Harders Blick auf die Frühgeschichte.
Feuer und Eis: Harders Blick auf die Frühgeschichte.

© Carlsen

Nach 360 aufregend gezeichneten und einfallsreich komponierten Seiten endet dieser erste Teil des „Beta“-Zyklus, in dem der Berliner wie im ersten Band eine Unmenge an Bildzitaten verarbeitet hat. Die Werke der weit über 300 „Illustratoren, Malern, Comiczeichnern, Fotografen, Filmern und Bildhauern“, die in „Beta 1“ Eingang gefunden haben, werden am Ende akribisch belegt. Damit entgegnet Harder dem unsinnigen Vorwurf des Plagiats, der nach dem ersten Band in einigen Comicforen auftauchte. Unsinnig deshalb, weil in der Komposition der gezeichneten (nicht kopierten!) Bildzitate ein neues Kunstwerk entsteht. Die große künstlerische Leistung Jens Harders besteht darin, die menschlichen Fortschritte, Entwicklungen und Innovationen in einen sinnvollen Rhythmus zu setzen und dabei philosophie-, kultur- sowie wissenschaftshistorische Kontexte zu erschließen, mit denen die evolutionär-chronologische Erzählung immer wieder sinnerweiternd aufgebrochen werden kann.

Zurück ins All

Der bekennende Atheist Harder erklärt in seinem Nachwort, dass seine Erdgeschichte eine von vielen Möglichkeiten der Entstehungsgeschichte darstelle und „keinen Wahrheitsanspruch auf eine bestimmte Sichtweise vom Ablauf der Menschheitsentwicklung“ erhebe. Er wolle auch niemanden mit seiner naturwissenschaftlich begründeten Sichtweise bekehren. Aber die von Harder aufgezeigten Linien sind derart nah am Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis, dass man nach der Lektüre dieses jahrelang recherchierten und faktensicheren Comics kaum zu einer anderen Deutung kommen kann, als dass Wunder und Gottesfügungen in diesen hochkomplexen Prozessen keine Rolle gespielt haben können.

Fulminante Menschheitsbiografie: Das Cover des neuen Bandes.
Fulminante Menschheitsbiografie: Das Cover des neuen Bandes.

© Carlsen

Jens Harder blättert nicht nur fulminant die Weltgeschichte vor uns auf, sondern erzählt sie in seiner Lesung und Sicht, indem er Mythologie und Göttergeschichten sowie geistes- und kunstgeschichtliche Reflektion des kosmischen und irdischen Weltgeschehens in einmaliger Weise einbindet. Der Druck mit Metallfarben – wohl in Anspielung an das goldene Zeitalter, die Bronze- und die Kupferzeit sowie die Erfindung der Metallurgie – ist spektakulär. Seine gigantische Erdbiografie hat Harder nun zu einer fulminanten Menschheitsbiografie ausgebaut.

Deutet man das letzte Bild in „Beta 1“, wird der Mensch im anschließenden Band voraussichtlich dahin zurückkehren, wo die Erde – und damit auch Harders Erdbiographie – ihren Auftakt fand: ins All. Denn es zeigt den Start einer Rakete.

Jens Harder: Beta …civilisations. Band I. Carlsen Verlag 2014. 368 Seiten. 49,90 Euro.

Weitere Tagesspiegel-Artikel unseres Autos Thomas Hummitzsch finden Sie hier. Zu seiner Website "Intellectures" geht es hier.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false