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Jurgeit

© Siegfried Scholz

Blog: Comics in der Presse: Tim geoutet?

Martin Jurgeit, Chefredakteuer des Fachmagazins "Comixene", wertet in seinem neuem Blog "Comics in der Presse" zum Start die umfangreiche Berichterstattung anlässlich des 50-jährigen Jubiläums von "Tim und Struppi" aus.

Wer über die Jahre etwas verfolgt hat, wie in den diversen Zeitungen und Magazinen über Comics berichtet wird, konnte Gesetzmäßigkeiten ausmachen, die sich exemplarisch in der letzten Woche wieder einmal an "80 Jahren Tim und Struppi" zeigten. Wann immer ein Comic-Jubiläum journalistisch begangen wird, lassen sich die auflaufenden Beiträge in vier Fraktionen einteilen:

Gruppe 1: "Die Historiker". Exemplarisch hierfür steht der Beitrag "Ein ganz normaler Held" im "Tagesspiegel", in dem Michael Hüster Tims Erfolg mit seiner Normalität erklärt: "Tim ist ein recht farbloser Held mit Haartolle und Kniebundhose. Er besitzt keine Superheldeneigenschaften. Doch er verkörpert Werte wie Freundschaft, Hilfsbereitschaft, Gerechtigkeit und Mut." Auch "Welt"-Autor Holger Kreitling geht das Thema in "Tim und Struppi sind auch mit 80 Jungspunde" auf diese Weise an.

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Weltenretter, Schurkenjäger. Detail des Covers von "Tim in Tibet".

© Illustrationen: Hergé/Promo

Und spätestens wenn er ausführt: "Die 23 Alben des belgischen Meisters Hergé dürfen in keiner Bibliothek fehlen. Psst, nicht weitersagen, aber besser auf Schiller oder Dostojewski verzichten als auf 'Tim und Struppi'", hat ihn jeder Comic-Fan in sein Herz geschlossen. Doch leitende Zeitungsredakteure hätten es gerne etwas tiefgründiger, und das führt uns zu ...

Gruppe 2: "Die Feuilletonisten". Hierunter fällt Gerhard Matzigs Artikel "Schurken, Wahnsinnige und ein Pfadfinder" in der "Süddeutschen Zeitung", in dem wir lesen: "Tim ist der kanonische Weltenretter und Schurkenjäger, weil wir – die Pullunder-Existenzen der Welt – uns wünschen, es möge am Ende einer von uns sein. Keiner, der den exotischen Sehnsüchten entspringt, sondern der Banalität unseres Alltags". In solch wohlfeilen Ausführungen müssen wir uns regelmäßig erklären lassen, warum wir eine Comic-Serie so gerne lesen – selbst noch als Erwachsene!

Folgt Gruppe 3: "Die Gratulanten". Hierbei gilt es Folgendes zu beachten: Comic-Künstler bekommen es immer mit den Hommage-Beiträgen ihrer lieben Zeichner-Kollegen zu tun, Comic-Figuren dagegen sehr gerne mit ihren gezeichneten Kollegen. 

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Moderne Klassiker. Tim und Struppi auf dem Titel von "Der geheimnisvolle Stern".

© Illustration: Hergé/Carlsen

Insbesondere in der "Frankfurter Rundschau" erfreut sich das Gratulanten-Prinzip seit einiger Zeit großer Beliebtheit. Zudem lässt es sich glänzend als Bildergalerie online umsetzen, wie auch in der von Angela Breitkopf zusammengestellten Strecke "Treue Begleiter". Hier treten Struppis Kollegen an, als da wären: Pluto, Rantanplan, Snoopy, Wum, Idefix, Krypto, Odie, Goofy sowie Plisch & Plum. Nur eines lässt uns etwas ratlos zurück: Gibt es wirklich keinen einzigen Hund in Mangas?

Bleibt noch Gruppe 4: "Die Provokateure" (und die "Auf-sie-Einsteiger"). Gerade diese Fraktion hat unserem guten Tim schon übel mitgespielt: Mal war er ein Tierquäler (wegen eines explodierenden Nashorns), dann ein Rassist (wegen "negerartigen" Schwarzen in frühen Abenteuern) oder gleich ganz allgemein ein Faschist (wegen der Kollaboration seines Schöpfers Hergé mit den Deutschen). Und wie lässt sich das jetzt noch toppen? Mit dem Outing von Tim! Dies machte sich der "Times"-Autor Matthew Parris in der Kolumme "Of course Tintin's gay. Ask Snowy" letzte Woche zur Aufgabe. Oh Gott – womit hat Tim nur diesen durchgeknallten Briten verdient? In früheren Ergüssen forderte der bekennende Homosexuelle und langjährige Unterhaus-Abgeordnete der Konservativen (zu den Zeiten von Margaret Thatcher!) schon dazu auf, die ihn nervenden Radfahrer mit über Feldwege gespannten Klaviersaiten zu enthaupten. Zu Tim fällt ihm nun dieses ein: "Ein Junge mit süßem Gesicht, der hingebungsvoll seinen flauschigen Zwergterrier liebt, dessen nächste Kumpels ein unzertrennliches Paar Detektive ist, die Melonen tragen, und dessen einzig echte weibliche Freundin eine Operndiva ist ... und sie wollen mir weismachen, Tim sei nicht schwul?"

Da hat Parris aber die Rechnung ohne die tintinophile Internationale gemacht. Denn sogleich konnte Tim auf die Unterstützung des F.A.Z.-Redakteurs Andreas Platthaus in seinem Comic-Blog bauen. In "Achtung, Steven Spielberg: Tim ist schwul, und er lebt" führt Platthaus als Gegenthese den äußerst hetereosexuellen Lebenswandel von Hergé ein, der "ein ziemlicher Frauenheld war und für die Geliebte aus dem eigenen Studio der Ehefrau den Laufpass gab".

Wen das noch nicht ausreichend beruhigt hat, der konnte zum "Figaro" greifen. Im Beitrag "On a marché sur Tintin" fährt das französische Blatt mit Serge Tisseron sogar einen leibhaftigen Psychiater auf. Tisseron meint, dass in "den Abenteuern von Tim und Struppi die sexuelle Dimension völlig abwesend ist. Tim ist eine Person, deren Geschlecht nicht definiert ist." Ja, er setzt sogar noch einen drauf: "In 'Tim und Struppi' sind in Wirklichkeit alle Menschen Kinder." Gerade Haddock habe ich so noch gar nicht betrachtet...

Mal sehen, was sich die lieben Kollegen im Sommer zu Donald Ducks Fünfundsiebzigsten so alles einfallen lassen. Bis dahin können Sie weitere tagesaktuelle Beispiele der Comic-Berichterstattung im Online-Portal Comicforum finden. Dort unterhält auch das Internetmagazin Comicgate ein eigenes Forum, in dem es bereits seit Jahren das Thema "Comics in der Presse" gibt. Direkt zu erreichen ist es unter: www.comicforum.de/comicsinderpresse, wo jeder auch seine eigenen Fundstücke posten und verlinken kann.

Der Journalist und Publizist Martin Jurgeit ist Chefredakteuer des Comic-Fachmagazins COMIXENE. Die aktuelle Ausgabe 104 ist überall im Comicfach- und Bahnhofsbuchhandel erhältlich.

Martin Jurgeit

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