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© Illustration: Barry/Drawn & Quarterly

Kunst-Comic: Folge dem Tintenfisch

Es dürfte das ungewöhnlichste, kreativste und verspielteste Buch sein, das je mit dem Eisner-Award ausgezeichnet wurde, dem Oskar der US-Comicbranche. Auf Deutsch wird es Lynda Barrys fantastischen Kreativ-Workshop „What it is“ wohl niemals geben – ein Grund mehr, sich das Meisterwerk im Original zu besorgen.

Als Lynda Barry ein kleines Mädchen war, spielte sie immer das gleiche Spiel. Sie starrte die ausgeschnittenen Zeitungsbilder an, die an der Wand des Wohnwagens hingen, in dem sie mit Mutter und Geschwistern aufwuchs. Starrte sie lange genug, erwachten die Bilder zum Leben, bewegten sich und fingen an, Geschichten zu erzählen.

So ähnlich ist das mit dem Buch, für das die 53-jährige Barry kürzlich mit dem Eisner-Award für den besten nicht-fiktiven Comic des Jahres ausgezeichnet wurde – ein Preis, der sie auf eine Stufe mit der großartigen Autorin und Zeichnerin Alison Bechdel stellt, deren Autobiographie „Fun Home“ zwei Jahre zuvor den Preis bekam.

Anders als Bechdels Erzählung, die von Denis Scheck auf Deutsch übertragen wurde und auch hierzulande eine wachsende Leserschaft begeistert, dürfte Lynda Barrys Buch wohl kaum je übersetzt werden: Es ist eine Collage aus tausenden Bildern und Worten, aus Zeitungsschnipseln, Briefen, handschriftlichen Notizen und anderen Fundstücken vorwiegend aus der privaten Sammlung der Autorin – ein fantastisches, sehr individuelles Kaleidoskop, das man nicht in andere Sprachen übertragen kann, ohne das Buch ganz neu zu konzipieren.

Spielerische Reise ins Unbewusste

Wer sich dennoch – und sei es mit Hilfe eines Wörterbuchs - auf Barrys Bilderwelt einlässt, für den erwachen ebenfalls die Bilder und Geschichten zum Leben. Und zwar nicht nur die, die Barry über mehr als 200 Seiten in ihrem Buch ausbreitet – sondern auch die, die der Leser in seinem Kopf mit sich herumträgt, manchmal ohne davon zu wissen.

Denn Barrys Buch ist nicht nur ein wunderbar anzuschauendes Lesebuch, es ist ein Workshop zur kreativen Selbstfindung, dessen suggestiver Kraft man sich schwer entziehen kann.

Aufgebaut als ein mit autobiographischen Einsprengseln durchzogenes Do-it-Yourself-Buch, hat Lynda Barry sich und ihrem Buch ein Ziel gesetzt: Die in ihrem Leser schlummernde Fantasie zu wecken und in produktive Kanäle zu lenken. Eine Missionarin, die weiß, wovon sie spricht: Als kleines Mädchen liebte sie das Zeichnen und das Geschichtenerzählen. In der Pubertät versiegte die Kreativität – ausgetrieben durch die Frage: Ist es gut? Ist es schlecht? Erst mit viel Mühe, Glück und Motivation durch spätere Lehrer eroberte sich Lynda Barry den Zugang zu ihrer schöpferischen Seite zurück. Und predigt seitdem jedem, der es hören will: Das kannst Du auch!

Ihren Lern- und Selbstfindungsprozess, den sie in schlichten, aber anrührenden Comic-Sequenzen nacherzählt, will sie auch dem Leser ermöglichen. Sie nimmt ihn mit auf eine spielerische Reise ins Unbewusste: Grundlegende Fragen, ironisch gebrochene Anleitungen und immer wiederkehrende Übungen sollen dabei helfen, sich seiner kindlichen Fantasie und Kreativität zu erinnern und sie in die erwachsene Gegenwart zu übertragen – was im Verlauf des Buches zunehmend funktioniert.

Eine Botschaft wie Barack Obama: Yes you can!

Barry mischt eigene Zeichnungen und Worte mit Fundstücken und kuriosen Bilderschnipseln zu einer wundervollen, manchmal zirkusbunten Collage – jede Seite für sich ein Kunstwerk.

Aber keines, das den Leser angesichts der Genialität der Schöpferin dieses Buches vor Ehrfurcht erstarren lässt und ihn angesichts ihrer handwerklichen Überlegenheit einschüchtert. Nein, Barry ist keine großartige Künstlerin in dem Sinne, dass sie ihr Handwerk perfekt beherrscht und es dazu verwendet, ihre Unerreichbarkeit zu demonstrieren. Sie ist vielmehr eine Autodidaktin, die sich einen lebendigen, klaren Zeichenstil erarbeitet hat, der aber alles andere als imposant ist, sondern die Spuren der damit verbundenen Anstrengung nicht verleugnet. Imposant ist dafür umso mehr, wie sie es schafft, ihre eigene überbordende Fantasie in klare Bilder und verspielte Collagen zu verwandeln, die dem Leser zu zeigen: So schwer ist das gar nicht.

Das mündet in einem klaren Arbeitsprogramm: Das letzte Drittel des Buches ist ein Arbeitsheft, in dem Barry Aufgaben gibt, die unsere Gedanken und Erinnerungen zum Laufen bringen, unterstützt von einem gezeichneten Tintenfisch und anderen Fantasiefiguren, die den Leser bei der Selbstfindung begleiten: Schreibe 20 Namen von Deinen Mitschülern in der Grundschule auf – und halte fest, welche Erinnerungen die Namen provozieren! Welches war Deine erste Telefonnummer – und welche Erinnerungen sind damit verbunden? Welches war das erste Auto Deiner Familie? Das spielerische Arbeitsprogramm kombiniert sie mit Entspannungsritualen, Fingerübungen, zeichnerischen Spielen und der wie ein Mantra wiederholten Aufforderung, alle Erinnerungen, Gefühle und Bilder kommen zu lassen und mit dem Stift festzuhalten, in Worten oder Bildern, ohne jedes Mal gleich zu sortieren und zu bewerten, ob sie gut oder schlecht sind, ob sie Kunst sind oder nicht.

Die Vergangenheit ist für Barry keine Zeit, sondern ein Ort.

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Bilder überall. Eine Seite aus dem Buch.

© Illustration: Barry

Und dieser Ort birgt die Kreativität, die Gefühle, die Erinnerungen, die zu Bilderwelten führen können wie sie dieses Buch beispielhaft zusammenträgt. Ein Buch, das großen Spaß macht – und Mut, sich stärker auf sich selbst und seine eigene, in der Regel unterentwickelte und zu lange unausgelebte Kreativität einzulassen. Ein Buch, das Barack Obamas Mantra aus der Politik in den Bereich der Kunst überträgt und auch dem vermeintlich unbegabten Leser vor Augen führt: Yes you can!

Lynda Barry: What it is. 210 Seiten,Verlag Drawn & Quarterly, rund 20 Euro – im Fachbuchhandel oder via Internet. Eine Leseprobe gibt es unter diesem Link. Zur Homepage der Autorin geht es hier.

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