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Manga: Stilles Glück, stille Trauer

Jiro Taniguchi, der japanische Meister des melancholischen Comic-Realismus, wird langsam auch in Deutschland von einem breiten Publikum entdeckt, zuletzt mit der autobiographischen Familiengeschichte „Die Sicht der Dinge“.

Das Buch ist der Versuch einer Wiedergutmachung. 15 Jahre lang hatte der Autor und Zeichner Jiro Taniguchi seine Eltern nicht besucht. Immer fand er Ausreden, mal war er zu beschäftigt, mal zu faul. Als ihn eines Tages ein Jugendfreund anrief und drängte, seiner alten Heimatstadt einen Besuch abzustatten, gab er sich einen Ruck.

Die Gefühle, die er nach 15 Jahren Abwesenheit empfand, als er erstmals wieder mit alten Freunden und Verwandten zusammen war, schwankten zwischen glücklicher Geborgenheit und Verwunderung darüber, wie sehr er sich verändert hatte, während daheim alles merkwürdig vertraut war. Erst im Alter lernte er, so schreibt Taniguchi im Nachwort zu seinem melancholischen Comicroman „Die Sicht der Dinge“, welches „unbeschreibliche Glück sich dahinter verbirgt, eine Heimat zu haben“.

Der heute 61-jährige Taniguchi hat eine Meisterschaft darin entwickelt, in poetischen Bildstrecken das Glück aber auch die Trauer auszudrücken, die mit alltäglichen, teils banal scheinenden Vorgängen verbunden sind. Dank einer neuen Edition der wichtigsten Werke des Comic-Künstlers im Carlsen-Verlag sowie einiger weiterer Veröffentlichungen im Verlag Schreiber und Leser (mehr dazu hier) sind diese Meilensteine der grafischen Erzählung jetzt auch einem größeren Publikum in Deutschland zugänglich.

Die Entdeckung der Langsamkeit

Vor dem kürzlich auf Deutsch erschienenen autobiographischen Werk „Die Sicht der Dinge“ (im Original 1994 veröffentlicht) erhielt vor allem sein zehn Jahre altes Schlüsselwerk „Vertraute Fremde“, das ebenfalls autobiographische Züge trägt, jetzt endlich die verdiente Aufmerksamkeit. So bekam das 400-Seiten-Epos über die Zeitreise eines Architekten in die eigene Jugendzeit neben begeisterten Kritiken auch zwei Auszeichnungen als „Comic des Jahres 2007“ sowie im vergangenen Jahr den renommierten Max-und-Moritz-Preis als „Bester Manga“. Wir verlosen drei Exemplare von „Vertraute Fremde“ – mehr dazu am Ende dieses Textes.

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Wiederkehr. In "Vertraute Fremde" findet sich der erwachsene Erzähler im Körper eines 14-Jährigen wieder.

© Illustrationen: Taniguchi/Promo

Die Einordnung als „Manga“ birgt allerdings die Gefahr des Missverständnisses. Während die üblicherweise in Deutschland erschienenen japanischen Comics in der Regel eher für rasantes Tempo, oberflächliche Charaktere und stereotype Handlungsmuster bekannt sind, bietet Taniguchi das Gegenteil: Die Entdeckung der Langsamkeit, verbunden mit fundierten Charakterstudien und Geschichten voller liebevoll herausgearbeiteter Details.

Das kürzlich erschienene „Die Sicht der Dinge“ zeigt Taniguchis Meisterschaft ein weiteres Mal. Es erzählt in ruhigen, klaren Bildern die Geschichte des Großstädters Yoichi, der seinem Herkunftsort den Rücken gekehrt hat und gegen seinen Vater einen tiefen Groll hegt. Als sein Vater stirbt, kehrt er zum ersten Mal nach vielen Jahren zurück. Er wird von Erinnerungen und Gefühlen überwältigt und erfährt im Gespräch mit Verwandten und Freunden der Eltern von Seiten seines Vaters, von denen er keine Ahnung hatte.

"Verzeihung für meinen kindlichen Ungehorsam"

Taniguchis Geschichte ist so klar strukturiert wie jedes einzelne Panel. Rückblicke auf die eigene Kindheit und die Trennungsgeschichte seiner Eltern wechseln sich ab mit Gesprächen bei der Totenwache für den Vater, in denen Hauptfigur Yoichi so manche Facette seiner Familiengeschichten erfährt, die ihn sein eigenes Leben anders betrachten lassen.

Die unprätentiöse, ruhige und dennoch intensive Art, mit der Taniguchi die Reise Yoichis in seine eigene Vergangenheit schildert, ist bewegend. Umso mehr, wenn man im Nachwort erfährt, dass Taniguchi die Geschichte seinen Eltern gewidmet hat – und sie damit „um Verzeihung für meinen langjährigen kindlichen Ungehorsam bitten“ möchte.

Jiro Taniguchi: „Die Sicht der Dinge“, 280 Seiten, Carlsen-Verlag, 14 Euro. „Vertraute Fremde“, 400 Seiten, Carlsen, 19,90 Euro.

Hinweis: Die Verlosung ist beendet, die Gewinner wurden benachrichtigt
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