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Mörderisches Berlin: Für  "Ich habe Adolf Hitler getötet" hat der Comicautor Jason eine Woche lang in Berlin recherchiert.

© Reprodukt

Stadtleben: Für jeden Traum die passende Kulisse

Reiche Geschichte, dynamische Gegenwart: Aus gutem Grund werden nur wenige Orte so oft in Comics verewigt wie Berlin.

Die Geister der Vergangenheit trifft man in dieser Stadt an jeder Ecke. In der kürzlich auf Deutsch erschienenen Comic-Erzählung "Ich habe Adolf Hitler getötet" zum Beispiel. Sie spielt in einem Parallel-Berlin, das sich von der echten Stadt vor allem dadurch unterscheidet, dass der Auftragsmord ein legales Geschäft wie jedes andere ist. Die unterkühlt lakonische Fabel des in Frankreich lebenden Norwegers Jason, für die er vor einiger Zeit eine Woche lang in Berlin recherchierte, ist einer der Neuzugänge im beständig wachsenden Genre des Berlin-Comics. Rund 100 Bücher, Alben und Serien gibt es bislang, in denen Autoren und Zeichner aus aller Welt ihre grafischen Erzählungen zwischen Olympiastadion und Müggelsee ansiedeln. Und alle paar Wochen kommt derzeit ein neues Werk hinzu, so zuletzt die in einem Wildwest-Berlin angesiedelte Genre-Persiflage "Krepier oder Stirb" von Bela Sobottke sowie "Berlin - Geteilte Stadt", ein Episodenband mit Geschichten von Mauer und deutsch-deutscher Teilung von Susanne Buddenberg und Thomas Henseler.

Nur wenige Städte der Welt tauchen so oft in Comics auf. Gegenüber anderen im Medium populären Metropolen hat Berlin für grafisch interessierte Erzähler einen zentralen Standortvorteil: New York oder Tokyo ermöglichen zwar mit ihren in den Himmel ragenden Wolkenkratzern Figuren wie Batman, Spider-Man oder futuristischen Manga-Helden einen dramatischen Auftritt in luftiger Höhe. Aber Berlin geht in die Tiefe: Kaum eine andere Stadt bietet einen so reichhaltigen Fundus spektakulärer Historie und der dazugehörigen Architektur, aus dem sich Zeichner und Autoren freihändig bedienen können.

Deswegen erscheint in mindestens jedem zweiten Comic die Stadt als Symbol für zentrale Epochen der europäischen Geschichte, am liebsten als Metapher für die Ursachen und Folgen von Diktatur und Krieg. Ein Viertel aller Erzählungen konzentriert sich auf die NS-Zeit oder die Weimarer Republik, ein Fünftel spielt vor dem Hintergrund der deutsch-deutschen Teilung oder der Wiedervereinigung.

Den Zeichner Jason Lutes hat das Berlin der 20er gepackt. Seit gut 15 Jahren arbeitet der 1967 geborene Amerikaner schon an seinem Weimarer-Republik-Epos "Berlin", von dem kürzlich in den USA das 18. Heft erschienen ist. Auf Deutsch sind bereits zwei Sammelbände veröffentlicht worden. Die Stadt erscheint ihm als "einzigartiger Schnittpunkt von Politik, Kultur, Gesellschaft", aus dem man viel Allgemeingültiges ableiten kann, wie der an der US-Ostküste lebende Autor sagt, der Berlin von Besuchen und aus umfangreichen Archivrecherchen kennt. Aus der Sicht sorgfältig konstruierter fiktiver Akteure im realen Kontext reflektiert Lutes in seiner Erzählung die sozialen und politischen Spannungen zwischen 1928 und 1930. Klare Bilder und sensible Texte vermitteln die Atemlosigkeit jener Jahre in ruhigen und doch dynamisch wirkenden Bildfolgen, die deutlich machen, wieso nicht nur Lutes glaubt, diese mitgenommene Stadt, die in den meisten Comics schillernd und auch ein wenig bedrohlich wirkt, könnte ein Schlüssel zum Verständnis des 20. Jahrhunderts sein.

Stadt der Fantasie: Dirk Schulz und Robert Feldhoff haben vor ein paar Jahren Berlin ins Jahr 2323 versetzt.
Stadt der Fantasie: Dirk Schulz und Robert Feldhoff haben vor ein paar Jahren Berlin ins Jahr 2323 versetzt.

© Carlsen

Der französische Comic-Altmeister Pierre Christin fühlt sich seit einem Besuch zu Mauerzeiten zu der Stadt hingezogen. Seitdem kam der für gezeichnete Politthriller bekannte Autor immer wieder, radelte an der Mauer entlang und später quer durch die vereinte Stadt. Mit Kamera und Skizzenblock sammelte er Impressionen in Wedding, Reinickendorf oder am Müggelsee. Zwei Bücher stehen für seine Berliner Phase: der in der Nachwendezeit spielende, im Südosten angesiedelte Thriller "Lenas Reise" und die im Nordwesten spielende 1950er-Agentengeschichte "Agence Hardy - Berlin, zone française".

Die Stadt als Projektionsfläche, als Leinwand nicht nur für Gefühle sondern auch für historisch-politischen Tiefgang - das verführt immer wieder auch Science-Fiction-Zeichner wie den französischen Szene-Star Bilal oder zuletzt Dirk Schulz und Robert Feldhoff. Die beiden haben Berlin ins Jahr 2323 versetzt, samt Dauer- Love-Parade, Retro-Mauer und Kampfgiraffen. Die Stadt sehen sie vor allem als ein Symbol für zentrale politische, geschichtliche und kulturelle Entwicklungen, erzählten die beiden aus Oldenburg und Bielefeld stammenden Autoren dem Tagesspiegel anlässlich eines Besuchs an der Spree. Die Stadt sei für sie "wie ein Ausrufezeichen".

Bei jüngeren Autoren und Zeichnern gewinnt allerdings auch das reale Berlin der Gegenwart zunehmend an Bedeutung, etwa ein Viertel aller Berlin-Comics spielt im Hier und Jetzt. Das gilt naturgemäß besonders für hier ansässige Zeichner wie Flix, der neben seinen Tagesspiegel-Episoden auch Klassiker-Adaptionen im Berlin der Gegenwart ansiedelt: Sein "Faust" ist ein Taxifahrer aus der Kastanienallee in Prenzlauer Berg. Und dass das Märkische Viertel heute einen gewissen Kultstatus hat, dürfte vor allem Zeichner Fil und seinen beiden von dort stammenden Prollschweinen "Didi & Stulle" zu verdanken sein.

Geschichte wird gemacht: Eine Szene aus  der Adaption von Chloe Aridjis' Roman "Le Livre des Nuages" durch die belgische Zeichnerin Fabienne Loodts.
Geschichte wird gemacht: Eine Szene aus der Adaption von Chloe Aridjis' Roman "Le Livre des Nuages" durch die belgische Zeichnerin Fabienne Loodts.

© Warum-Verlag

Mit einfühlsamen Blicken auf die Stadt warten aber auch durchreisende Zeichner wie der Brite Oliver East auf, der mit seinem schrullig-schönen Reisetagebuch "Berlin and that" seine Wanderungen durch die östlichen Bezirke dokumentiert hat. Und die belgische Zeichnerin Fabienne Loodts nutzte einen längeren Berlin-Aufenthalt für die grafische Adaption des Romans "Le Livre des Nuages" der mexikanisch-amerikanischen Autorin Chloe Aridjis: Darin lässt sich eine junge Frau scheinbar teilnahmslos durch ein bleistiftgraues, geheimnisvolles Berlin treiben, während hinter den Fassaden bedrohliche Erinnerungen hervorlugen. Fabienne Loodts wird das Buch im September auf dem Internationalen Literaturfestival Berlin vorstellen, mehr zu dem dort stattfindenden Graphic-Novel-Tag in Kürze auf den Tagesspiegel-Comicseiten.

Wie kaum eine andere Stadt lädt Berlin dazu ein, die Grenzen von Zeit und Raum zu überschreiten, schreibt der kanadische Kulturwissenschaftler Anthony Enns in dem Essay-Band "Comics and the City". Er sieht eine Parallele zwischen der deutschen Hauptstadt und dem Medium: So wie im Comic Bilder und Texte, Elemente der Vergangenheit und der Gegenwart, Fakten und Fiktives zu einem hybriden Werk zusammenfinden, so sei auch Berlin eine schillernde "Montage" aus Bildern und Worten, Historie und Zukunft, Wunsch und Wirklichkeit.

Für die Hamburger Künstlerin Isabel Kreitz, die Berlin für ihre Kästner-Adaptionen und zuletzt auch für einen demnächst erscheinenden Comic-Reiseführer immer wieder gezeichnet hat, ist die Stadt wie ein dreidimensionales Archiv unterschiedlichster Epochen. Auch sei die Stadt durch Malerei, Grafik, Film und Fotos so gut dokumentiert, wie nur wenige andere. Dadurch würden Geschichten hier "schneller lebendig und vorstellbarer, als an Orten, die man erst mühsam rekonstruieren muss".

(Dieser Artikel ist die aktualisierte Version eines Textes, der erstmals im April 2012 im Tagesspiegel auf den Mehr-Berlin-Seiten erschien)

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