zum Hauptinhalt
Perspektivwechsel: Das gezeichnete Alter Ego des Autors im Dialog mit seinen tierischen Wegbegleitern.

© Suhrkamp

Volker Reiches „Kiesgrubennacht“: Blick in den Abgrund

Mit „Mecki“ und „Strizz“ wurde er berühmt. Jetzt hat Volker Reiche mit „Kiesgrubennacht“ eine beeindruckend vielschichtige Graphic Novel über seine Jugend als Kriegskind veröffentlicht.

Die Erinnerung sei das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können, hat der Philosoph Jean Paul behauptet. Was aber, wenn die Gedankenreise in die eigene Jugend nicht ins Paradies führt, sondern an den Abgrund der Hölle? Der Zeichner Volker Reiche, seit seinem „FAZ"-Strip „Strizz“ eine Institution in Sachen nachdenklich-unterhaltsamer Bilderzählung, hat mit knapp 70 seine Kindheitserinnerungen in Comicform aufgearbeitet.

Seine Graphic Novel „Kiesgrubennacht“ ist ein Buch der Kontraste geworden. Voller fiktiver Elemente und doch sehr real, cartoonhaft leicht gezeichnet und doch tiefgreifend, verstörend und aufmunternd, traurig und witzig: Ein Wechselbad der Gefühle und Perspektiven. Vor allem aber ist es erzählerisch und zeichnerisch souverän bis in den letzten Strich - einer der nachhaltig beeindruckendsten deutschen Comics seit langem.

Der Vater betätigte sich als „Dichter des Führers“

Reiche, 1944 geboren und vielen Lesern als Comic-Underground-Pionier („Liebe“), als erster deutscher Donald-Duck-Zeichner sowie durch die jahrzehntelange Arbeit als „Mecki“-Zeichner für die „Hörzu“ bekannt, kontrastiert seine Erinnerungen an die Jugend als Kriegskind doppelt. Zum einen tritt sein erwachsenes Comic-Alter-Ego neben den kleinen Jungen, der er einst war. Zum anderen tauchen die altklugen Comictiere, die man aus „Strizz“ kennt, als kritische Kommentatoren auf. Diese Wechsel sind anfangs irritierend, ergeben jedoch im Verlauf der Erzählung eine bemerkenswerte Tiefe.

Idyllische Szenen aus der Kinderperspektive wechseln sich ab mit Episoden, in denen Spannungen in der Familie aufflackern, die auch mit dem unbewältigten NS-Erbe zu tun haben. Der latent gewalttätige Vater hatte sich als „Dichter des Führers“ betätigt und spielte im Krieg eine unklare Rolle bei einer Massenhinrichtung, die Mutter war Gauleiterin beim „Bund Deutscher Mädels“ – nach dem Krieg ringen sie um Normalität in unnormalen Zeiten, vor allem durch Verdrängung.

Begegnung der Generationen: Der gezeichnete Volker Reiche im Kindesalter schaut auf dem Cover auf Bilder seines erwachsenen Ichs.
Begegnung der Generationen: Der gezeichnete Volker Reiche im Kindesalter schaut auf dem Cover auf Bilder seines erwachsenen Ichs.

© Suhrkamp

Darüber hinaus ist die Erzählung dank Reiches selbstkritischer Sicht auch eine Auseinandersetzung mit der Weitergabe aggressiver Verhaltensmuster an folgende Generationen und mit der Unzuverlässigkeit von Erinnerungen. Ein eindrucksvoller Beleg dafür, wie ertragreich Erinnerungsarbeit auch knapp 70 Jahre nach dem Ende der NS-Zeit sein kann – für die Betroffenen wie in diesem Fall auch für die Leser.

Volker Reiche: Kiesgrubennacht, Suhrkamp, 231 Seiten, 21,99 Euro

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false