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Auf der Rückseite des Mondes: Ein Szenenfoto aus „Münchhausen – Die Wahrheit übers Lügen“.

© Benjamin Raeder / Drehbühne im Pfefferberg Theater

Wo Sigmund Freud auf Münchhausen trifft: Erdbeerpflücker auf dem Mond

Eine Berliner Theatercompany hat Flix' und Bernd Kissels Comic „Münchhausen – Die Wahrheit übers Lügen“ für die Bühne adaptiert.

Kann denn Lügen Sünde sein? Ja, wenn die Lüge dazu dient, ein Verbrechen zu verschleiern. Zum Beispiel die eigene Familie ermordet zu haben. Oder Spionage für den „Führer“ zu betreiben im Kriegsjahr 1939. Doch halt: In welchem Film befinden wir uns hier eigentlich? Falsche Frage: In welchem Comic?

Das Theaterstück „Münchhausen – Die Wahrheit übers Lügen“, das die „Drehbühne Berlin“ Donnerstagabend im Pfefferberg-Theater uraufführte, basiert auf dem gleichnamigen Comic, den der Saarbrücker Zeichner Bernd Kissel (u.a. „SaarLegenden“, „SaarlandAlbum“) und sein Berliner Kollege Flix („Glückskind“, „Spirou in Berlin“) 2016 im Carlsen-Verlag veröffentlichten.

Während Kissel das Zeichnen übernahm, ließ sich Flix für sein Szenario von den verschiedenen literarischen Versionen des Münchhausen-Mythos inspirieren, um am Ende eine eigene, geistreich modernisierte Version des angestaubten Stoffes aus dem 18. Jahrhundert zu kreieren.

Schon die Ausgangslage ist originell: Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs landet ein Heißluftballon auf dem Buckingham Palace. Der darin vorgefundene seltsame Alte mit der vollkommen aus der Mode gekommenen weißen Perücke wird als vermeintlicher deutscher Spion festgenommen, behauptet aber felsenfest, direkt vom Erdbeerpflücken auf dem Mond zu kommen.

Da die Briten in ihren Ermittlungen feststecken, heuern sie eine altbewährte Fachkraft für schwierige Fälle an: Dr. Sigmund Freud, der vor den Nazis ins Londoner Exil geflüchtet ist. Er nimmt den Job erst an, nachdem ihm gedroht wird, ins Reich ausgeliefert zu werden...

Spezialisiert auf populäre, familientaugliche Stoffe

Die 2004 gegründete „Drehbühne Berlin“ ist eine kleine Theatercompany, die sich auf populäre, familientaugliche Stoffe spezialisiert hat – mit ihrem Debüt „Der kleine Prinz“ landeten sie einen Publikumserfolg, mit der Chaplin-Hommage „Verrückte Zeiten“ gaben sie kürzlich ihren Einstand im Prenzlauer Berger Pfefferberg-Theater.

Doppelte Charaktere: Ein weiteres Szenenfoto aus „Münchhausen – Die Wahrheit übers Lügen“.
Doppelte Charaktere: Ein weiteres Szenenfoto aus „Münchhausen – Die Wahrheit übers Lügen“.

© Benjamin Raeder / Drehbühne im Pfefferberg Theater

Dem im Kern aus einem Duo bestehenden Team – der Schauspielerin Nanda Ben Chabaane (als Münchhausen) und ihrem Kollegen Lorenz Christian Köhler (als Sigmund Freud) - gelingt es, den durchaus figurenreichen Comic so zu erzählen, dass nahezu sämtliche Handlungselemente erhalten bleiben und die zwei Hauptpersonen mit allen ihren Macken und Schrullen aufs Genüsslichste porträtiert werden.

Regisseur Lorenz Christian Köhler berichtet, wie es dazu kam, dass die Drehbühne den Comic zur Grundlage ihres Bühnenstücks auswählte. „Wir hatten bereits seit Längerem die Idee, Münchhausen für die Bühne zu adaptieren. Und unabhängig davon auch die Idee, das Medium Comic aufzugreifen. Vor etwa einem Jahr fiel mir dann zufällig die Graphic Novel von Flix und Kissel in die Hände. Noch am gleichen Tag habe ich Flix kontaktiert, der von der Idee begeistert war, den Stoff auf die Bühne zu bringen.“

Die Bühne als lebendes Comic-Panel

Clou der Aufführung: Die Masken der beiden sind genau dem Äußeren der Comicfiguren nachgestaltet, wie auch ihre Kleidung und die Kulisse dem flächigen, vorwiegend aus feinen Grauschattierungen bestehenden Look des Buches nachempfunden sind. Die Bühne als lebendes Comic-Panel!

Die eigentliche Erzählung dreht sich um die fragwürdigen Erinnerungsbruchstücke des Barons Münchhausen alias „Rony“, der wenige Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs als Jugendlicher miterlebt, wie seine Familie mit einem Schlag zu Tode kommt. Da man ihn als Mörder vorverurteilt, büxt er aus, indem er sich am Haarschopf samt Pferd aus dem Gefängnis zieht...

Comic-Kulisse: Ein weiteres Szenenfoto aus „Münchhausen – Die Wahrheit übers Lügen“.
Comic-Kulisse: Ein weiteres Szenenfoto aus „Münchhausen – Die Wahrheit übers Lügen“.

© Benjamin Raeder / Drehbühne im Pfefferberg Theater

Fortan versucht er, Kaiser „Wilhelm Zwo“ zu treffen und von seiner Unschuld zu überzeugen. Köhler: „Relativ schnell war klar, dass wir den Anspruch haben, uns ästhetisch sehr nah an der Vorlage zu orientieren. Zum Einen, weil diese - in mehrfacher Hinsicht - phantastisch ist, zum Anderen, weil es - zumindest nach unseren Recherchen - bisher keine vergleichbare Inszenierung gibt. Bislang hatten wir uns noch nicht mit dem Sujet „Comic“ auf der Bühne beschäftigt. Die Herausforderung war also einerseits, die Schwarz-Weiß-Ästhetik der Vorlage zu realisieren, die dann natürlich mit der Rückseite des Mondes gesprengt wird. Andererseits das Spiel mit 2-D und 3-D.“

Eine Bettdecke wird zum Pferd

Für die einzelnen Erlebnisse Münchhausens werden Sequenzen aus dem Comic vergrößert und - oft in Verbindung mit Sound-Effekten, Animationen, eingesprochenen Texten und Musik - auf die Kulisse projiziert. Die Schauspieler müssen so in Interaktion mit dem Comic treten und äußerst präzise agieren.

Köhler erklärt dazu: „Graphisch war die größte Herausforderung der Formatwechsel vom Hochformat der meisten Comicseiten und einzelnen Panels der Vorlage ins Querformat der Bühne.“ Höhepunkt sind der zum Münchhausen-Mythos gehörende Ritt auf der Kanonenkugel und die überraschende Gestaltung der (in phantastischen Farben schillernden) Rückseite des Mondes.

Klassische Bühnenmittel und kleine, aber bühnenwirksame spielerische Einfälle ergänzen die szenische Umsetzung: Eine Münchhausen-Puppe fliegt per Ballon vom Mond zurück zur Erde, eine Bettdecke mit Zeichnung dient Rony als Gaul, und Dr. Freud hält eine gezeichnete „Seufz“-Sprechblase über seinen Kopf, als ihm das Münchhausen´sche Geschwätz zu viel wird.

Liebevoll und kurzweilig

Bei der Premiere sind auch die Autoren der Vorlage anwesend. Während Bernd Kissel von den gelungenen Masken und vom mitreißenden Spiel der Schauspieler angetan ist, zeigt sich Flix von der szenischen Umsetzung begeistert und lobt die Detailverliebtheit und die kongeniale Übertragung des Comics in ein Theaterstück.

Bei allem Slapstick blitzt doch immer wieder die Tragik auf, die sich hinter der Phantasterei der Hauptfigur verbirgt. Köhler: „Inhaltlich hat uns vor allem die Grundidee der Begegnung von Freud und Münchhausen überzeugt, aber auch der Ansatz, dass kein wie üblich selbstverliebter, "starker" Münchhausen gezeigt wird, sondern zwei gebrochene Charaktere aufeinander treffen. Münchhausen, dem keiner glaubt und der eine traumatische Kindheit und Jugend mitbringt. Und Freud, der am Ende seines Lebens den Boden unter den Füßen verliert, indem er gezwungen wird, ins Londoner Exil zu gehen und hier wie dort, trotz seines prominenten Namens, den jeweiligen Autoritäten ausgeliefert ist. Der Comic bietet natürlich die Chance, jede noch so tragische Geschichte mit Leichtigkeit und Humor zu erzählen.“

Nicht zuletzt lebt das Stück von seinen überzeugenden Darstellern. Nanda Ben Chaabane überzeugt als mal überdrehter, dann wieder dement erscheinender, verzweifelt nach Erinnerungsfetzen heischender Lügenbaron, der verzweifelt versucht, seine Unschuld zu beweisen. Im Gegensatz dazu ist der leicht tattrige Sigmund Freud Lorenz Christian Köhlers ein ausgebuffter Profi mit allerlei Hintergedanken.

Der Drehbühne Berlin ist eine liebevolle und kurzweilige Übertragung eines Comics in die Theaterform gelungen, die in ihrem Genre Maßstäbe setzen könnte und Comic- wie Literaturfans samt Anhang restlos überzeugen dürfte.

Drehbühne Berlin: „Münchhausen-Die Wahrheit übers Lügen“. Weitere Vorstellungen: Sa., 16.Nov., 20 Uhr, So., 17.Nov., 16 Uhr , Do., 21.Nov. bis Sa., 23.Nov., jew. 20 Uhr. 2020: Do., 23. Jan. bis Sa., 25.Jan., jew. 20 Uhr. Ort: Pfefferberg Theater, Schönhauser Allee 176, D-10119 Berlin, Ticket-Hotline: Tel. 030-939358555, Erwachsene 22 €, ermäßigt 16 €, Kinder 8 -12 Jahre 11 €.

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