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Frühling vorm Balkon. Auch unsere Autorin muss jetzt viel über das eigene Zuhause nachdenken.

© Christian Kleiner

Corona und Privilegien: Mein Gott, halt einfach die Klappe!

Corona sei der große Gleichmacher, sagt Madonna. Nachrichten zeigen Snuff aus New York. Unsere Gastautorin räumt ihr Leben auf. Und denkt über Privilegien nach.

Sivan Ben Yishai, geboren 1988 in Tel Aviv, lebt seit 2012 in Berlin. Ihre Stücke liefen am Maxim Gorki Theater. Sie ist Dozentin an der Universität der Künste Berlin und in der Spielzeit 2019/20 Hausautorin am Nationaltheater Mannheim. Aus dem Englischen von Franziska vom Heede.

„Mir geht's good“. Ich habe gelbe Tulpen gekauft. Endlich habe ich angefangen, Obst zu essen: Ich schneide Erdbeeren und Bananen und mische sie mit Nüssen in mein Müsli. Die wunde Ozonschicht schließt sich. Affen rennen frei in den Straßen herum. Delfine springen prustend durch die blauen Wellen des Landwehrkanals.

FOMO (Fear of Missing Out – Die Angst, etwas zu verpassen) gibt es nicht mehr. JOMO (Joy of Missing Out) hat eine neue Bedeutung. Männer in Anzügen füllen die Bildschirme. Parfümiertes Klopapier ist wieder verfügbar. Deutschland bietet Hilfe für die Restaurierung von Notre-Dame an. Die letzten Soforthilfe-Zuschüsse werden verteilt. Unbürokratisch. Solidarisch. #ThankYouGermany.

„It's the great equalizer“, sagt Madonna zu COVID-19, in einem Milchbad sitzend, auf dem Rosenblätter schwimmen: „Wenn dieses Schiff sinkt, gehen wir alle zusammen unter“.

Und bei uns sinkt sogar die Infektionsrate. Wir machen etwas richtig, sagt jemand, exakt zwei Meter hinter mir im Supermarkt. Die Kassiererin niest. Das Bild friert ein. Dann sagt sie laut: „Hallo! Jetzt nicht den Humor verlieren!“, und alle lachen, alle lachen zusammen, hinter ihren baumwollenen Homemade-Mundschutzmasken, und ich schwöre – in einer Sekunde geht der Flashmob los.

Dinge mal anders machen

Frühlingsanfang. #StayTheFuckHome und ich beschließe, endlich meinen Balkon einzurichten. Es ist genau wie das Obst-Ding: Das habe ich schon seit Jahren vor. Ich hole die alten, verstaubten Stühle rein, stelle sie vor die Wohnungstür; ich schrubbe den Balkonboden, dann stelle ich eine Couch, einen Plastik-Flamingo und ein paar Pflanzen raus. Ich lasse eine Jazz-Playlist laufen.

Ich koche türkischen Kaffee. Ich stelle ein großes Glas Wasser dazu. Ich mache eine Kanne Tee. Ich mag gar keinen Tee. Ich höre sonst nie Jazz. Ich lege eine Tischdecke auf den Balkontisch (auch hier Flamingos).

[Behalten Sie den Überblick über die Corona-Entwicklung in Ihrem Berliner Kiez. In unseren Tagesspiegel-Bezirksnewslettern berichten wir über die Krise und die Auswirkungen auf Ihre Nachbarschaft. Kostenlos und kompakt: leute.tagesspiegel.de.]

Ich stelle eine Vase auf den Tisch, mit drei oder vier Tulpen (ja, die gelben), hänge ein kleines Bild von Maggie Nelson an die Wand, und die Sonne kommt raus. Ich nehme mir ein Buch. Lese für zwei oder drei Stunden. Die Sonne verschwindet.

Die zwei alten Balkonstühle warten immer noch vor der Wohnungstür darauf, rausgebracht zu werden. Die Stühle, die seit sechs Jahren Teil dieser Wohnung waren, fühlen sich schon fremd an, irgendwie infiziert.

Alles, was nicht zum ausgewiesenen häuslichen Bereich gehört, zum Kern-Ich, steht jetzt unter Virusverdacht. Abstand bitte. Stühle raus. Also schleppe ich sie nach draußen. Als ich mich umdrehe, entdecke ich an der Hauswand, direkt unter meinem Küchenfenster, einen neuen Schriftzug in großen, schwarzen Buchstaben: „Evakuiert Lesbos. Rettet Leben!“

Mehr Spargel als Palästina

Ungefähr dreißig Meter liegen zwischen dem warmen Schoß meines jetzt flamingoisierten Balkons und der tätowierten Haut der Hausvorderseite. Zweieinhalb Zimmer trennen meinen grünen Hinterhof und die frisch auf die Wand gesprühten Worte.

In den Nachrichten: mehr Spargel als Palästina. Mehr Fußball als das Flüchtlingslager in Moria und das Alan-Kurdi-Schiff. Eine Prise Panik aus Neu-Delhi. Ein bisschen NYC-COVID-Snuff.

„Wenn ich Corona habe, will ich nicht, dass meine Brust so gezeigt wird, beatmet, in der ,Tagesschau’“, schreibe ich einem Freund, während die Nachrichten laufen. „Keine Sorge“, schreibt er, „sie machen das nur mit anderen Ländern, aus deutschen Krankenhäusern zeigen sie nicht solche Bilder.“

Nach dem Morgen-Yoga und der Bio-Gemüse-Lieferung stöhnt die achtsame Mainstream-Linke: „Ich weiß schon, ich bin superprivilegiert, aaaaaaber.“

Aber.

Wie entdecken wir neue Muskeln im Körper? Sie fangen an wehzutun.

Alles ist zu hinterfragen

Der Raum, der sich zwischen dem Balkon zum Hinterhof und der vorderen Hauswand, zwischen dem privaten, versteckten Organ und dem Hautmantel erstreckt – das eigene Zuhause – fängt plötzlich/endlich an, wehzutun.

Es ist der private Raum zwischen Hinterhof und Straße, der jetzt von der bürgerlichen europäischen Mittelschicht „Achtsamkeit“ verlangt (und nein, ich meine nicht die Zoom-Yogastunden-Achtsamkeit). Es ist das private Zuhause, das sich jetzt mit der Frage konfrontiert sieht, worauf sich das „Alles, was wir haben“ stützt.

Während wir weiterhin Gemütlichkeit performen, haben wir in unseren Herzen irgendwie alle angefangen, uns und unsere Scheißtulpen zu verfluchen: Mein Gott, halt einfach die Klappe. Du sitzt in deinem schicken Zuhause, bedankst dich für deine Privilegien und denkst über die Situation des zeitgenössischen Theaters nach? Im Ernst, halt die Klappe.

Die eigene Haut ist jetzt ein Teil des Angriffs

Der private, häusliche Raum war immer Teil des Gebildes aus der Verleugnung, dem Vergessen und den Ungleichheiten, die außerhalb seiner Mauern auftraten.

Aber jetzt klopft dieses Gebilde an die Fenster und jetzt ist es an die Wände getaggt und man hetzt in der Quarantäne hin und her, zwischen dem Balkon und der Hausfront; man ist isoliert im Raum zwischen dem Hinterhofbalkon, den Straßen draußen und dem Kontaktverbot dazwischen.

Die eigene Haut fängt an, sich gegen den Körper, den sie bedeckt, aufzulehnen, als wollte sie sagen: „Vielleicht solltest du wirklich anfangen, dich in diesem Körper unwohl zu fühlen.“

Die eigene Haut ist jetzt ein Teil des Angriffs und wird die Krankheit schließlich übertragen: auf die Hinterhofbalkone, in die inneren Räume, in die gemütlichen Privatwohnungen, auf die Idee von dem, was wir glauben zu sein und darauf, was wir wirklich sind: „Ich weiß schon, ich bin superprivilegiert, aaaaaaber“.

Zwischen der Haut und dem Bauchraum, der Hausfront und dem Hinterhofbalkon, Gaza und Tel-Aviv, den Ägäisinseln und Berlin. Und mit einer Schale Erdbeeren und Bananen sitzt die Autorin auf ihrem Balkon.

Sivan Ben Yishai

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