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Kultur: Dadaistische Ursonate

"Perpetuum Mobile" aus der Schweiz an der Berliner VolksbühneVON FRANK DIETSCHREITVon irgendwo her plätschert leise ein Radio.Dann, nachdem wir schon dachten, das Theater sei zum virtuellen Wartesaal geworden, schält sich langsam eine graugesichtige Gestalt aus dem Dämmerlicht.

"Perpetuum Mobile" aus der Schweiz an der Berliner VolksbühneVON FRANK DIETSCHREITVon irgendwo her plätschert leise ein Radio.Dann, nachdem wir schon dachten, das Theater sei zum virtuellen Wartesaal geworden, schält sich langsam eine graugesichtige Gestalt aus dem Dämmerlicht.Nimmt Platz und doziert wie ein vor Jahrzehnten in seinem Klassenzimmer vergessener Volkshochschullehrer, dem es gleichgültig ist, ob jemand zuhört.Auf sein Kommando hebt sich erst der Stoff-, dann der Eiserne Vorhang, kommen die Ketten- und Konterzüge, die Gewichte und Gegengewichte in Bewegung.Die Theatermaschine ächzt und stöhnt, alles rotiert, doch eigentlich geschieht nichts.Das "Perpetuum Mobile" singt seinen "Kanon für geschlossene Gesellschaft". Der Schweizer Musiker, Schauspieler und Regisseur Ruedi Häusermann entführt uns auf die Hinterbühne der Volksbühne.Denn dort sitzen wir genau richtig, um das Theater als eine Maschine zu verstehen, die ständig in Bewegung und sich selbst genug ist.Was sonst so vorgehen mag, in der Wirklichkeit - aber gibt es die überhaupt noch ? -, ist für dieses ohne Energieverbrauch arbeitende, den physikalischen Gesetzen widersprechende, einzig in der Phantasie existierende "Perpetuum Mobile" ohne Belang. Zu bestaunen, wie immer bei Häusermann - und natürlich erst recht bei Marthaler - ist die Komik des Banalen, die in skurril-minimalistischen Endlosschleifen durchgespielt wird.Ein gutes Dutzend amorphe Gestalten huschen mit blauen Hausmeisterkitteln und funzeligen Taschenlampen über die halsbrecherischen Galerien der Hinterbühne.Von "Schicksal" und "Zeit" und "größerer Ordnung " murmeln sie, während sie die Theatermaschine in Bewegung halten.Gern intonieren die vom höheren Blödsinn Paul Scheerbarts und Velimir Chlebnikovs infizierten Gestalten den wie eine dadaistische Ursonate daherkommenden Kanon. Dazu entlocken drei mit Nyltesthemden und geschmacklosen Krawatten in musikalischer Zeitlosigkeit versteinerte Tonmeister ihren Instrumenten bizarre Töne.Die Hubpodien knarzen und die Nebelmaschinen wabern.Eine irgendwann stehengebliebene Bühnenuhr verzögert die Zeit ins Unendliche.Das Theater mit all seinen akustischen und optischen Wundern kennt kein Gestern und kein Morgen.Es war immer schon da, wird es immer sein.Wie die Menschen, die in diesem Perpetuum Mobile gefangen sind.Wer nach Sinn und Bedeutung dieser zum kauzigen und putzigen Spiel-Abend arrangierten Maschine fragt, hat schon verloren.

FRANK DIETSCHREIT

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