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Kultur: Dann bist du draußen

In Deutschland sind sie die Minderheit in der Minderheit. Und eigentlich dürfte es sie gar nicht geben: Schwule Türken sind ein Tabu. Über ein Leben zwischen Tradition und neuer Heimat.

Ein Plätzchen im Schatten brauchte er noch, für den Camembert im Rucksack, damit der nicht schmilzt. Es ist Samstagmorgen, Ercan kommt vom Markt. Ein kleiner Mann, durch dessen schwarze Haare sich Silbersträhnen ziehen. Zwischen Einkaufstüten erzählt er seine Geschichte, die orientalische Geschichte eines schwulen Türken.

Ercan, 38, wurde in Izmir geboren. Er wuchs nur mit seinem Vater und seinem Bruder auf, die Mutter hatte die Familie verlassen und war nach Deutschland gegangen. Schon als Kind spielte Ercan lieber mit Puppen als mit Autos, und er konnte sehr gut bauchtanzen. Kinderspielchen, sagte der Vater, ein Schneider, und nähte ihm ein Kleid. Auch die Nachbarn fanden ihn ganz hübsch.

Als er zwölf Jahre alt war, traf er zum ersten Mal seine Mutter. Sie nahm ihn mit nach Hamburg. Sie hatte wieder geheiratet, einen Türken, und aus der so freiheitsliebenden Frau, die damals ihr Leben alleine in Deutschland in die Hand nehmen wollte, war eine kopftuchtragende Muslima geworden. Sie schickte den Jungen in die Koranschule, er betete fünfmal am Tag, er begann zu glauben und wollte zurück in die Türkei. Er kam auf ein Internat, eine Religionsschule für Jungen. Dort verliebte er sich zum ersten Mal. In einen hübschen Jungen, blond, grüne Augen, ein Kind anatolischer Bauern und muskulös. Einer, der rauchte und gleichzeitig Klassensprecher und bester Koranleser der Stadt war.

„Ich hatte damals nie das Gefühl, etwas Falsches zu tun, ich hatte nur Angst, erwischt zu werden“, sagt Ercan. Jeden Samstag traf er sich mit seinem Freund. Während die anderen Jungen „Dallas“ guckten, damals ein Hit in der Türkei, küssten sie sich oben im Klassenzimmer.

Ercans Geschichte ist eine von fünf, die in dem Theaterstück „Jenseits – Bist du schwul oder bist du Türke?“ erzählt werden, das gestern im Theater „Hebbel am Ufer“ Premiere hatte.

Auf der Bühne stehen fünf Männer, schwule Türken, vor einer Himmelspforte (man könnte auch an eine Einbürgerungsbehörde denken). Eine Art Stewardess möchte nur eines von ihnen wissen: schwul oder Türke? Bitte ankreuzen im Kästchen links, aber nur ein Kreuz bitte, nur ein Kreuz.

Bist du schwul oder Türke? Nurkan Erpulat, der Regisseur, hat diese Frage oft gehört. Erst hat sie ihn amüsiert, dann interessiert. „Als Türke gehört man zu einer Minderheit in Berlin und als Homosexueller zu einer Minderheit in der türkischen Community. Aber ergibt nicht Minus und Minus wenigstens ein kleines Plus?“ Nurkan Erpulat ist vor kurzem aus der Türkei nach Deutschland gezogen, er hat in Istanbul Schauspiel gelernt und in Berlin Theaterpädagogik und Regie an der Universität der Künste studiert. Natürlich sei der Titel des Stückes keine soziologische These, sondern eine Provokation. Die Identitätsfrage sei gerade für schwule Türken sehr schwierig, weil sie sich nach außen zur deutschen Gesellschaft und nach innen zur türkischen Gemeinschaft abgrenzen müssen.

Ercan würde zwischen Türke oder schwul eindeutig schwul wählen. Denn während er als Türke eher Nachteile in Deutschland habe, erleichtere das Schwulsein ihm sein Leben als Berliner bislang nur. In der homosexuellen Szene hat er schnell Freunde gefunden, einen Job und auch den Mann seines Lebens.

„In der Türkei ist Homosexualität kein Thema“, sagt er. „Solange du nicht darüber redest, ist alles erlaubt.“ Denn tabu sei nicht die homosexuelle Neigung an sich, sondern der Sex. Darüber rede man nicht. Man könne das Doppelmoral nennen, oder Toleranz. Er sei eher auf der Toleranzseite.

Offiziell war Homosexualität in der Türkei nie verboten, anders als in Deutschland, wo erst 1969 gleichgeschlechtlicher sexueller Verkehr für Volljährige legalisiert wurde. Doch die liberale türkische Gesetzgebung spiegelt sich kaum im Alltag wider: Homosexuelle werden sozial und beruflich diskriminiert. Seit Anfang der 90er Jahre fordern die Lesben, Schwulen, Bi- und Transsexuellen in der Türkei Gesetze, die sie vor Gewalt und Diskriminierung schützen.

Ein Akteur ist der Verein „Lambda“ in Istanbul: Er organisiert Diskussionsabende, bietet medizinische und psychologische Beratungen an, führt eine eigene Bücherei zum Thema Homosexualität und zeigt Filme. Kurz, er klärt auf und macht Homosexualität sichtbar. Doch jetzt steht der Verein vor Gericht, er soll verboten werden, weil er die „moralischen und türkischen familiären Werte“ untergrabe.

Homosexualität passt nicht ins Bild der Gesellschaft. Und er passt nicht zur Religion. Islamwissenschaftler sind sich zwar uneinig, ob der Koran homosexuelle Liebe explizit untersagt. Fest steht aber, dass Sex vor der Ehe nicht erlaubt ist. Und so wird gleichgeschlechtlicher Sex, zumal er nicht zur Fortpflanzung dient, zum Verstoß.

Istanbul habe zwar eine große Homo- und Transsexuellenszene, es gebe Bars und Clubs und viele Travestieshows, sagt Nurkan Erpulat. Doch wie Verliebte sollten Männer lieber nicht durch die Viertel ziehen. Das geht aber auch in anderen Städten nicht bedenkenlos.

In Berlin wurden im Jahr 2000 stadtweit Plakate geklebt mit der Aufschrift: „Kai ist schwul. Murat auch! Sie gehören zu uns. Jederzeit“. Ein Jahr später folgte „Anna ist lesbisch. Zeynep auch!“ Initiiert vom Berliner Lesben- und Schwulenverband in Deutschland, waren das die bundesweit ersten Aktionen, um die Tabuisierung von Homosexualität in der türkischen Community aufzubrechen. Als die 2004 und 2005 fortgesetzt wurden, gehörte der Türkische Bund Berlin-Brandenburg zu den Unterstützern.

Sich als schwul zu outen – das sei in der türkischen Kultur ziemlich schwer, sagt auch Nurkan Erpulat. Das Migrationszentrum Miles hat geschätzt, dass nur jeder zehnte diesen Schritt wagt und dass im Gefolge einer verschämten Homosexualität die Aids-Rate unter den schwulen Migranten stark steige.

Der Grund für das Schweigen könnte darin liegen, dass die türkischen Familien in Deutschland konservativer sind als in der Türkei. Es herrschen sehr patriarchalische Strukturen, aber auch sehr solidarische. Diese Einheit wird fest zusammengeschnürt, weil sie von einer anderen Kultur umgeben ist. Unter diesem Druck ist ein Outing dann die Entscheidung gegen die Gemeinschaft. Gegen den Vater, dessen Sohn kein Mann mehr ist, gegen die Mutter, die ihren Sohn vor den Nachbarn rechtfertigen muss, gegen Nachwuchs und Kinder. Gegen die Familie.

„Solange du nicht offen darüber redest, gehörst du noch dazu, aber sobald du sagst, ich bin schwul, bist du draußen“, sagt auch Ercan. Er arbeitet bei dem Verein „Gladt“ („Gays & Lesbians aus der Türkei“), den es seit 2003 gibt. Auf dessen „Rosaseiten“ stehen die Adressen von Ärzten, Anwälten und Gemüsehändlern in Berlin, bei denen niemand wegen seiner Herkunft oder sexuellen Orientierung diskriminiert wird.

Seiner Mutter hat er erst vor vier Jahren gesagt, dass er homosexuell ist. Er ist zu ihr nach Hamburg gefahren, hat sich auf das Sofa gesetzt und es ihr gesagt, „Mama, ich bin schwul.“ Aber dagegen gibt es doch Medikamente! Da hat er den Kopf geschüttelt und ist gegangen.

Zehn Tage später hat sie ihn angerufen: „Du bist also schwul, hast du gesagt? Wusste ich es doch. Schließlich bin ich deine Mutter.“ Seitdem haben sie das Thema nie wieder berührt. Auch ihr Mann, Ercans Stiefvater, weiß nichts davon. Sie hat es akzeptiert, hingenommen wie einen Schicksalsschlag, nur reden möchte sie darüber nicht. „Sie denkt, ich komme jetzt in die Hölle und nicht mit ihr ins Paradies, das ärgert sie natürlich“, sagt Ercan, aber dass er nicht mehr so viel bete, ärgere sie ebenso sehr. Auch der Bruder hat gelernt, mit Ercans Besonderheit zu leben. Das Einzige, was den immer noch beunruhigt, ist: „Bitte, lass dich nicht ficken.“ Denn das sei das Schlimmste.

Für das türkische Militär ist Homosexualität ein Grund zur Ausmusterung. Schändlich in einem Land, das als Sprichwort kennt: „Jeder Türke ist ein Soldat“. Aber kein offen lebender Homosexueller würde freiwillig den Dienst antreten. Wer schwul ist, sagt dies bei der Musterung und hofft zu entkommen. Im Zweifelsfall muss er ein Foto mitbringen, das ihn beim Sex mit einem Mann zeigt. Der eine hinten, der andere vorne. Wobei nur der Gebückte nicht zur Armee muss. Denn nur derjenige, der beim Sex passiv ist, gilt als schwul. Der Aktive ist erst recht ein Mann.

Das türkische Militär betrachtet Homosexualität als einzige Nato-Armee immer noch als eine Krankheit. „Psychosexuelle Störung“ stand auch in Ercans Militärstatus. Eigentlich wollte Ercan damals Lehrer werden, Beamter, doch mit diesem Papier in der Hand konnte er das vergessen.

Eigentlich gibt es sie nicht, die schwulen Türken in Deutschland. In der türkischen Gesellschaft sind sie tabu und in der deutschen schwul. Und wenn sie sich nicht entscheiden, bleiben sie ganz einfach unsichtbar. Erpulat wünscht sich, dass man ihre Lebensgeschichten irgendwann einmal unabhängig von der Herkunft sieht. Und man die Frage nach schwul oder türkisch für das nimmt, was sie ist: totaler Quatsch.

Ercan hat vor ein paar Jahren geheiratet, eine „eingetragene Lebensgemeinschaft“, wie man das in Berlin nennt, sein Ehemann ist ein deutscher Grundschullehrer. Vergangenes Jahr sind sie zum ersten Mal gemeinsam in die Türkei gefahren und haben dort Ercans erste Liebe besucht. Er lebt als Bauer in einem kleinen Dorf, ist verheiratet und hat vier Kinder. Zuerst habe der ihm gar nicht in die Augen sehen wollen, erzählt Ercan. Das seien doch Jugendsünden gewesen damals, Kinderkram, habe er gesagt. Nicht unfreundlich, nur ein wenig verlegen. Diese Zeit liege so weit zurück. Seit dem Militär habe er nicht mehr daran gedacht. Heute sei er glücklich mit seiner Familie. Ob Ercan verheiratet sei? Ja, er sitzt dort drüben. Ercan fand seine Liebe von damals wieder gut aussehend, einen schönen stattlichen türkischen Mann. „In mir steckt doch immer noch eine anatolische Frau“, sagt Ercan und kichert.

„Jenseits – Bist du schwul oder bist du Türke?“ ist bis 6. Mai im „HAU – Hebbel am Ufer“ am Tempelhofer Ufer zu sehen

Johanna Lühr

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