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Kultur: Das "68er-Syndrom": Die Erfindung der Geschichte

Geschichtsdebatten haben meistens nur wenig mit den historischen Fakten zu tun und viel mit tagespolitischen Interessen. Das ist nicht neu - und es gilt auch für die Ereignisse um 1968, die seit geraumer Zeit als besonders ergiebiger Steinbruch für geschichtspolitische Argumente ausgebeutet werden.

Geschichtsdebatten haben meistens nur wenig mit den historischen Fakten zu tun und viel mit tagespolitischen Interessen. Das ist nicht neu - und es gilt auch für die Ereignisse um 1968, die seit geraumer Zeit als besonders ergiebiger Steinbruch für geschichtspolitische Argumente ausgebeutet werden. Im Konjunkturverlauf der Thematisierung von 1968 erleben wir gerade die dritte Aufgipfelung. Auf dem Zenit ihres öffentlichen Ansehens stand die 68er-Bewegung 1988, als in den Feuilletonspalten ihr Jubiläum gefeiert wurde. Damals wollten viel mehr 68er gewesen sein, als es 1968 gegeben hatte - bis hin zu den "anderen 68ern" aus der CDU. 68 war zur Chiffre der notwendigen Reform der Gesellschaft geworden, unter der alle etwas anderes verstehen und sich gerade deshalb zugehörig fühlen konnten. Hans Magnus Enzensberger meinte, 1968 habe die "unbewohnbare Bundesrepublik erst bewohnbar" gemacht. In das euphemistische Deutungsmuster einer Zeitenwende fügt sich ein breiter Strom der Literatur, die Knut Nevermann einmal als "psychohistorisches Patchwork" bezeichnet hat, besonders markant in der Konstruktion einer Revolte der Nachgeborenen gegen ihre Eltern oder sogar als Revolte gegen die Täter von Auschwitz. Die 68er, so wurde resümiert, hätten letztendlich dafür gesorgt, dass aus der Bundesrepublik ein westliches Land, aus Untertanen Bürger, aus einer obrigkeitlichen eine offene und tolerante Gesellschaft geworden sei. Eine politische Generation, so sah es aus, arbeitete am positiv besetzten Ursprungsmythos von 1968.

Die Konjunkturen eines Datums

Mit dem Ehrentitel 68er war es 1993, bei der nächsten Konjunktur der Debatte, schon wieder vorbei. Dazwischen lagen der Zusammenbruch der DDR und die deutsche Vereinigung. Die Publizistin Brigitte Seebacher-Brandt jubelte wohl als eine der ersten über die damit angeblich verbundene Niederlage der 68er: "Die Geschichte hat sie überlistet und abgewählt." Es artikulierten sich zunehmend jene, die wie der Politologe Wilhelm Hennis verletzt und zornig auf die von ihm - in Anlehnung an Nietzsche - als "ruchlose Jahre" apostrophierte Zeit zurückblickten. Der positiven Verklärung von 68 wurde ein negativer Ursprungsmythos gegenübergestellt, dem Werteverlust, Disziplinlosigkeit, Drogensucht, Jugendkriminalität und terroristische Gewalt entsprungen seien. Alle damit im Zusammenhang stehenden Topoi, etwa der Vorwurf des "Linksfaschismus" (Jürgen Habermas), gab es im Übrigen schon Ende der 60er Jahre. Die jetzige dritte Hochkonjunktur der Debatte um 68 hat dem Arsenal der Erklärungen wenig hinzugefügt. Allerdings sitzen heute einstmals rebellische Aktivisten sogar auf Regierungssesseln. Vor diesem Hintergrund erleben wir den bisher erfolglosen Versuch der Berliner Opposition, eine gerade Linie von 1968 zum "deutschen Herbst" 1977 zu ziehen und den Außenminister und ehemals "militanten" Ideologen einer Frankfurter Spontigruppe persönlich zu belasten. Die rein taktische Absicht, so die recht beliebte Regierung in Bedrängnis zu bringen, ist allerdings allzu offenkundig. Angela Merkels Aufforderung an Joschka Fischer "Buße zu tun" ist Umfragen zufolge der übergroßen Mehrheit der Deutschen fremd oder unsympathisch, einmal ganz abgesehen von manchen dümmlich-infamen Vergleichen der Frankfurter Straßenkämpfer mit Neonazis. Sympathisch, weil eigene Erfahrungen ansprechend, ist den Deutschen vielmehr die "gebrochene Biographie", heiße Anwärterin auf das Wort des Jahres 2001. So wird die Debatte vermutlich noch eine Weile köcheln, bis wieder anderes in den Vordergrund des Talkshow-Interesses rückt. Das magische Datum kann für das politische Tagesgeschäft auch deshalb immer noch beliebig herangezogen werden, weil es im kollektiven Gedächtnis zwar tiefe Spuren hinterlassen hat, seine Bedingungsfaktoren jedoch kaum bekannt sind. Der Wandel politischer und wirtschaftlicher Strukturen, der kulturellen Paradigmen und mentalen Prägungen, der bereits ein Jahrzehnt vor "1968" eingesetzt hatte, ist bisher weitgehend ignoriert worden. Bestenfalls galt er als Vorgeschichte der "Revolte". Ohne die Kraft historiographischer Aufklärung überschätzen zu wollen: Man wird nicht mehr ganz so unbedarft diskutieren dürfen, wenn die gerade in Gang kommende geschichtswissenschaftliche Erforschung der 60er Jahre Eingang in eine weitere Öffentlichkeit finden wird. Die Historisierung der 68er-Ursprungsmythen wird weitergehen. Die 60er Jahre waren eine Art Scharnierjahrzehnt. Die bundesdeutsche Gesellschaft hatte schon im Wiederaufbau der 50er immer stärker moderne Elemente aufgenommen und war mehr als bloß restaurativ. Nun ließ sie in enormem Tempo die Nachkriegszeit hinter sich. Das hatte drei wesentliche Gründe: Bereits Mitte der 50er begann eine, wenn auch von Mauerbau und Kubakrise unterbrochene, Entdramatisierung des Kalten Krieges. Der bolschewistische Dämon wurde zum technisch-wirtschaftlichen Systemkonkurrenten, mit dem man sich rational auseinander zu setzen hatte. Zudem kündigte sich - unter dem Vorzeichen der "Vollbeschäftigung" - der Übergang zu nie gekanntem Wohlstand und Konsum an. Und dies wiederum war - drittens - die Voraussetzung dafür, dass die Deutschen die parlamentarische Demokratie wirklich akzeptierten. Gerade weil die Republik stabil war und nicht mehr grundsätzlich infrage gestellt wurde, verbreitete sich ein Reformklima - und die Forderung nach kritischer Bestandsaufnahme am Ende des Wiederaufbaus.

Die Demokratie begann nicht 1968

Die SPD, mit ihrem Godesberger Programm zur pluralistischen und pragmatischen Volkspartei gewendet, wurde in der Dämmerung der Adenauer-Ära zunehmend als moderne Alternative angesehen. 1962 ging die CDU/CSU/FDP-Bundesregierung mit polizeistaatlichen Mitteln gegen den "Spiegel" vor - und mobilisierte so den wirksamen Protest einer kritischen Öffentlichkeit. Kanzler Erhards Versuch, 1965 mit dem Schlagwort "formierte Gesellschaft" den sich ausbreitenden Pluralismus wieder staatlich einzuhegen, wurde nach weithin negativer Resonanz rasch aufgegeben. Auch die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, über der im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik der Mehltau kumpaneihafter Diskretion gelegen hatte, intensivierte sich. Der Eichmann-Prozess in Jerusalem (1961) und der Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963-65) riefen erstmals breite Auseinandersetzungen um NS-belastete Funktionseliten in Wirtschaft und Justiz, an den Universitäten und in der Politik hervor. Zwei Bonner Minister, Seebohm und Oberländer, mussten unter dem öffentlichen Druck zurücktreten.War also die Rebellion der 68er nichts anderes als die "Fußtruppe der Notwendigkeit, die Avantgarde des tertiären Sektors - und das Surplus an Demokratie gab es als nette Zugabe" (Thomas Assheuer)? Brauchte der gesellschaftliche Wandel nur noch einen Träger? War, wie Konservative meinen, 68 also völlig überflüssig, weil die Entwicklung in den 60ern ohnehin in Richtung Liberalisierung weitergegangen wäre?

Diese Argumentation übersieht die gegenläufigen Tendenzen jener Jahre. Denn in den 60ern griff auch ein rechtskonservativer und rechtsextremer Populismus um sich. Bei Landtagswahlen war die NPD erfolgreich, die Boulevardpresse hetzte gegen linke Intellektuelle, die Mehrheit der Bürger war laut Umfragen für einen Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit, der Ruf nach der Wiedereinführung der Todesstrafe wurde laut, es gab die Notstandsgesetze und eine Große Koalition, die die Gefahr politischer Konformität barg. Von einem Selbstlauf zu den lichten Höhen der Zivilgesellschaft kann also keine Rede sein - das hieße technische Modernisierung und fundamentale Demokratisierung zu verwechseln. Die Reibungshitze resultierte gerade daraus, dass der Modernisierungssog auf noch wirksame Kontinuitätsstränge und Mentalitäten aus der Zwischenkriegszeit traf - nicht nur in der Provinz gab es noch nationalsozialistisch belastete Lehrer, Hochschullehrer, Polizisten und Richter. Erst vor dem Hintergrund dieser widersprüchlichen politischen Kultur lässt sich der aktive Anteil der Apo am Abbau obrigkeitsstaatlicher und autoritärer Elemente ermessen.

Allerdings bleibt hier noch vieles zu erkunden. Denn die Jugend, die Anfang der 60er Jahre die Bühne betrat und die als erste im Frieden der Nachkriegszeit groß geworden war, strebte zunächst eher nach individuellen Freiräumen als nach politischer Mitsprache. Der hessische Sozialwissenschaftler und Bildungspolitiker Ludwig von Friedeburg befand noch 1965: "Überall erscheint die Welt ohne Alternativen, passt man sich den jeweiligen Gegebenheiten an, ohne sich zu engagieren, und sucht sein persönliches Glück in Familienleben und Berufskarriere. In der modernen Gesellschaft bilden Studenten kaum mehr ein Ferment produktiver Unruhe."

Obwohl sich das gesellschaftliche Klima verändert hatte, kam die Studentenrevolte sehr plötzlich. Im Sommersemester 1967 waren in den Studentenparlamenten der meisten Universitäten keine oder nur sehr wenige SDS-Mitglieder, während zahlreiche AStA-Referenten dem RCDS angehörten. Bekanntlich war der Tod von Benno Ohnesorg bei einer Demonstration gegen den Schah-Besuch am 2. Juni 1967 die Initialzündung für die Entwicklung der studentischen Opposition. In Hamburg wurde im Herbst jenes Jahres eine Feier zur Rektoratsübergabe mit einem spektakulären Transparent begleitet, das bundesweite Beachtung fand: "Unter den Talaren Muff von 1000 Jahren". Ähnliche antiautoritäre Aktionen gab es an vielen anderen Universitäten. In München ging die Rektoratsübergabe im Tumult unter. Am Jahreswechsel 1967/68 meldete die Presse Unruhen an 10 der 34 westdeutschen Hochschulen. 1968 wurden auch die anderen zwei Drittel einbezogen, binnen Jahresfrist gelang die Transformation einer kleinen Gruppe engagierter Aktivisten in eine große Bewegung - es begann das "Jahr der jungen Rebellen" (Stephen Spender). Frühling lag in der Luft, es herrschte Aufbruch, Euphorie. Die Atemlosigkeit, das Empfinden einer einmaligen Entscheidungssituation beseelte die Aktivisten der Revolte. Rudi Dutschke beim Berliner Vietnamtribunal im Februar 1968: "Wir haben nicht mehr viel Zeit ... Wir haben eine historisch offene Möglichkeit. Es hängt primär von unserem Willen ab, wie diese Periode der Geschichte enden wird."

Die Mythisierung der Studentenrevolte speiste sich aus ihrem unerwarteten Ausbruch, ihrer Vehemenz, dem auch massenmedial vermittelten Gefühl, dass es eine weltweite Gleichzeitigkeit gab, dass politische und kulturelle Momente ineinander griffen. Für die meisten war der Protest mehr Lebensgefühl als Ergebnis theoretischer Analyse, aber deshalb war er noch lange nicht unpolitisch. Das Lebensgefühl der 68er-Bewegung und von Teilen der jungen Generation umschloss durchaus politische Utopien und mögliche radikale Gesellschaftsveränderungen. Theoriefragmente mischten sich mit einer Stimmung, die eine Hymne der Bewegung ausdrückte - Bob Dylans "The Times, They are A-Changin": die stark ästhetisierte Vorstellung einer neuen Zeit, die angebrochen sei und die morschen Autoritäten überwinden werde.

Rasch veränderten sich auch die politischen Positionen - Forderungen nach demokratischer Reform im Rahmen der bestehenden Ordnung wurden übertönt von einer Mischung neomarxistischer, antiautoritärer und kulturkritischer Parolen. Die Reform-Helden des Jahres 1967 konnten als Girondisten erscheinen, die dem revolutionären Schwung von 1968 nicht zu folgen vermochten. Auch die liberalen Publizisten wandten sich nun ab. Gräfin Dönhoff, die die Muff-Aktion noch sympathisierend begleitet hatte, polemisierte bereits Anfang 1968 in der "Zeit" gegen die neue politische Romantik der radikalen Studenten. Umgekehrt wurde liberale Toleranz von diesen nun als Element der manipulativen Repression denunziert. Herbert Marcuse galt dafür zeitweise als theoretischer Gewährsmann. Man müsste heute als terminologische Vermittlungshilfe wohl geradezu ein Glossar mit dem entsprechenden zeitgenössischen Vokabular anfertigen: Spätkapitalismus, Manipulation, Konsumterror, repressiv und autoritär (als Adjektiv in allen Zusammenhängen), Establishment und Fachidiot.

Die Revolte: nur eine Modernisierung?

Die These, dass die 68er die Welt durch eine Revolution meinten verändern zu müssen, tatsächlich aber eine "Fundamentalliberalisierung" (so Jürgen Habermas bereits 1969) der westdeutschen Gesellschaft bewirkten, hat einiges für sich. Aber auch in der Hegelschen List der Vernunft, mit der die 68er-Bewegung zu guter Letzt zum Bestandteil der success story der Bundesrepublik wurde, geht ihre Geschichte nicht ganz auf. Der Zerfallsprozess, der für einen historischen Augenblick hergestellten Fusion von Gegenkultur und politischer Utopie wird noch genauer zu untersuchen sein, ebenso die Trennung von linkem Radikalismus und liberalen Begleitern der Revolte. Diese noch ausstehende Erkundung könnte helfen, Gewaltfaszination und Terror, aber auch die massenmedial geschürte Hysterie der 70er Jahre, die im "Deutschen Herbst" 1977 kumulierte, besser zu verstehen.

68 war zweifellos eine wichtige Zäsur. Die mythischen Besetzungen des Datums - als eigentlicher Ursprung ziviler Demokratie oder als Beginn des Zerfalls abendländischer Werte - könnten allmählich einer differenzierten Sicht weichen, und zwar je mehr die historische Forschung Maßstäbe zurechtrückt. Allerdings muss wohl im Konjunktiv formuliert werden. Die gegenwärtige Politkampagne lässt es fraglich erscheinen, ob die ganze Geschichte schon bald ohne persönliches Risiko als Vergangenheit erzählt werden kann.

Axel Schildt

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