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Kultur: Das Aschenbrödel-Prinzip

Schuster, bleib bei deinen Leisten, hieß es lange. Für Jürgen Ernst nicht: Er macht Fußkunst

Steil führt die Treppe zur Kellerwerkstatt hinab. Mit manchem, was dort unten hergestellt wird, würde ein Besucher diese Stiege kaum bewältigen. Doch ist man erst einmal unten, im Reich des „Herrn der Schuhe“, wie Jürgen Ernst sich und seine Maßschuhmacherei in Tiergarten nennt, muss man ohnehin praktische Erwägungen beiseite lassen. Schließlich stehen die ausgefallensten Modelle in Glasvitrinen. Ein Straßenpflaster werden sie nie betreten. Sie sind Kunst.

Da gibt es einen sich vorbeugenden Pfau: ein Hackenschuh, ganz und gar mit blau schimmernden Federn verkleidet, die Spitze schmückt ein Pfauenkopf aus Kork, den hinteren Teil verzieren Schwanzfedern. Der fellüberzogene, gestreifte Pumps daneben wird durch Kufen zum Schaukel-Zebra. Die Schuhskulpturen wurden für eine Auto-Werbung verwendet. Aussage: Während der Schuh lediglich schön anzusehen ist, funktioniert das Auto auch.

Dabei wirkt der 42 Jahre alte Jürgen Ernst, anders als es einige seiner Stöckel- oder Plateauschuhe vermuten lassen, sehr bodenständig. „Naja gut, alles ist möglich“, sagt er distanziert und zieht den Leisten für eine Auftragsarbeit hervor: Herren-High-Heels, Größe 48 mit zehn Zentimeter hohem Absatz. Wenn ihm mal etwas prätentiösere Wörter wie „kreieren“ herausrutschen, muss er sie gleich ironisch-donnernd wiederholen: „krrreieren!“ Im Gegensatz zu Stardesignern wie etwa Manolo Blahnik verfügt Ernst neben einem Sinn für Schönheit auch über handwerkliches Können – und verfertigt in über 300 Arbeitsschritten die von ihm entworfenen Schuhe selbst.

Anfang der Achtziger kam er von Freiburg nach Berlin, um die Maßschuhmacherkunst zu lernen. Doch handgenähtes Schuhwerk fand keine Abnehmer mehr, die alten Meister mussten ihre Läden schließen. „Die haben so manche Geheimnisse mit ins Grab genommen“, bedauert Ernst. Er trat eine Lehre bei einem Orthopädie-Spezialisten an. Dort lernte er viel über Füße und über Handwerk. Doch ganz zufrieden war er nicht: „Mit orthopädischen Schuhen kann man Menschen glücklich machen – doch Schönheit kommt zu kurz.“

Jürgen Ernst begann, sich mit Gestaltung zu beschäftigen. Den ersten hochfliegenden Ambitionen folgte schon bald Ernüchterung: Fußbekleidung ist nicht so ohne weiteres zu revolutionieren. Pioniere in England, Italien und Frankreich haben an Extravaganz kaum einholbar vorgelegt. Ernst machte seinen Meister und unterrichtete Schuhdesign an der Hochschule der Künste. Bald gründete er seine eigene Maßschuhmacherei – nachdem zehn Jahre kein solcher Betrieb in Berlin existierte. Heute gibt es wieder eine Hand voll. Doch der Unterschied zum Konfektionsschuh hat seinen Preis: Schon klassische Modelle, wie Ernst sie neben seinem Schreibtisch stehen hat, kosten um die 1000 Euro.

Trotzdem bestellen die wenigsten Kunden, um anzugeben. Vielleicht war das so bei dem Herrn, der kürzlich Krokodilleder aus Australien mitbrachte. Ernst hat damit kein Problem („alles ist möglich“). Nur manchmal, wenn er über die Ledermesse in Bologna geht und Elefanten-, Zebra- oder gar Biberschwanz-Haut betastet, fragt er sich, ob exotische Tiere unbedingt für Schuhe sterben müssen. Denn auch Kalbs- oder Ziegenleder kann vielfältig beschichtet, lackiert, geprägt, gefärbt werden. Und komfortabler ist Antilopenhaut auch nicht.

Die meisten Auftraggeber wählen maßgeschneiderte Schuhe wegen der Bequemlichkeit – allesamt Menschen über vierzig. „Die jungen Leute geben ihr Geld für andere Sachen aus. Wenn für teure Schuhe, dann nur wegen der Marke.“ Die Folge: orthopädische Probleme. Doch Ernst vermutet, dass sie sich lieber die Füße in schicken Schuhen zerquälen. So war das jedenfalls früher bei ihm.

Dabei erzählt nicht nur das Märchen von Aschenbrödel, dass eine fußgerechte Passform zum Glück verhilft und sich Komfort und Eleganz durchaus nicht ausschließen müssen. „Es gibt Schönheit“, sagt Ernst, „mit der ich zu Bolle um die Ecke laufen kann. Andere Schuhe sind eher für Stehpartys. Und dann gibt es die Schönheit, von der ich häufig träume: Madonna wird in Schuhen von mir auf die Bühne getragen, nach ihrem Auftritt wieder herunter. Schönheit, die keine funktionalen Aufgaben mehr erfüllt.“

Derweil schneidet seine Auszubildende schwarz-glänzendes Leder zurecht. Aufgereiht an der Wand: Unmengen von Schneidewerkzeugen. Ein Paar Gamaschen für eine Trapez-Artistin sollen aus den Teilen werden. Manchmal liegt das Außergewöhnliche auch im Funktionellen. Die Schuhmacherei produziert für Seiltänzerinnen, für Schauspieler des Berliner Ensembles oder für den Film. Radikale Entwürfe, Unikate wie die Pfauenschuhe, präsentiert Jürgen Ernst, der heute bequeme Stiefeletten aus eigener Herstellung trägt, auf Ausstellungen, Messen und Wettbewerben.

Seine jüngste Musterschuhkollektion, die Serie „Viceversa“ erhielt am Wochenende den 2. Landespreis der Berliner Handwerkskammer. Die Pumps aus blauem Ziegenleder, silbernem Lederbesatz, Pfauenfedern und Swarovski-Glassteinen haben keinen fest montierten Fersenaufsatz. Der wird erst beim Anziehen mit einem Lederriemen am vorderen Schaft und am Fuß fixiert. So entsteht ein festes Gebilde. „Schuh und Fuß geben sich so gegenseitig Halt und interpretieren ein scheinbar eindeutiges Rollenverhalten neu“, heißt es in der Urteilsbegründung der Jury. Wahrscheinlich findet Jürgen Ernst diese Formulierung zu hochgestochen. Nennen wir die Gewinner- Pumps also: „Schuhe für Stehpartys“. Man könnte mit ihnen die Treppe erklimmen, raus aus der Werkstatt.

„Landespreis Gestaltendes Handwerk Berlin“: bis 9. Dezember im Foyer der Berliner Volksbank (Budapester Str. 35, Charlottenburg). „Der Herr der Schuhe“, Kurfürstenstr. 19, Tiergarten.

Daniel Völzke

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