zum Hauptinhalt

Kultur: Das Auge der Welt

Magische Orte (Schluss): Sehen, wie die Erde sich dreht – im Pantheon von Rom und von Paris

Der Lichtkegel wandert. Langsam, aber unverkennbar. Staubpartikel flirren darin, und wenn es regnet, entsteht eine glitzernde Wasserskulptur. Sonnenuhr im Göttertempel, das Himmelslichtspiel funktioniert auch an Wolkentagen.

Wer im römischen Pantheon steht, von Kaiser Hadrian im 2. Jahrhundert n. Chr. erbaut, den ergreift ein astrologisches Schaudern. Das Tageslicht, das durch den Oculus fällt, die 8,3 Meter große Öffnung in der Kuppelmitte, durchläuft eine der Erddrehung entsprechende Kreisbewegung. Eine Offenbarung: Ich kann zugucken, wie die Erde sich dreht! GPS für Sehernaturen: Das kleine Ich ahnt die Dimensionen des Erdendaseins und verortet seine Koordinaten im Sonnensystem.

Das Pantheon in Rom ist ein Raum von vollkommener mathematischer Harmonie. 145 römische Fuß hoch, 145 römische Fuß breit und lang, das sind 43,2 Meter hoch drei. Die perfekte Rotunde, Weltkugelerbe, bei dem das Runde exakt über das Eckige geht: Michelangelo guckte sich hier die Architektur von Sankt Peter in Rom ab. Santa Maria del Fiore in Florenz, der Bibliothekssaal des British Museum in London – sie alle sind von Hadrians Meisterwerk inspiriert. Klare Sache, küchenpsychologisch betrachtet: Das Faszinosum überkuppelter Rundbauten lässt sich ohne Weiteres auf das Wonnegefühl im gewölbten Mutterleib zurückführen, aber auch auf die Hybris von Baumeistern und Himmelsstürmern jedweder Art. Wir im dunklen Kreis, der Mensch, umgeben von einer schützenden Schale: Peter Greenaway hat in seinem Rom-Film „Der Bauch des Architekten“ eine fantastische Bildlegende daraus gestrickt.

Aber dann schreitest du noch einmal durch den Portikus mit seinen 16 makellosen korinthischen Säulen hinein in den Rundbau, blickst noch einmal hoch durch das Loch ins Licht und bemerkst, dass du einer Sinnestäuschung erliegst. Man sieht keineswegs, dass die Erde sich dreht! Denn wenn sich statt ihrer die Sonne bewegte, wie die Menschheit einst glaubte, würde das Pantheon genau das gleiche Schauspiel bieten. Schöner Effekt, dieser flirrende Lichtkegel, aber leider: reine Illusion. Also auf nach Paris.

Auch das dortige Pantheon ist ein gewaltiger Kuppelbau, allerdings kein so harmonischer. Die Ruhmeshalle der Grande Nation, errichtet zu Zeiten der Französischen Revolution, versammelt in klassizistischer Hybrid-Manier die Künste vieler Epochen: griechisch-römische Tempelfassade, gotische Rippengewölbe, monumentale Fresken, und in der Krypta die Gräber der Nationalheiligen, von Voltaire bis Dumas. Hier protzt und prunkt Frankreich und betet sich selbst an. Hier gibt es auch keine himmlische Epiphanie, sondern Naturwissenschaft: Unter der Kuppel schwingt das Pendel Foucaults, noch eine Kugel, aus güldenem Messing. Als Jean Bernard Léon Foucault 1851 das Kunststück gelang, die Drehung der Erde um die eigene Achse sichtbar zu machen, war sie 60 Zentimeter dick, 28 Kilo schwer und mit einer Spitze versehen.

Langsam schwingt die Kugel hin und her, holt weit aus, schwebt am Besucher vorbei, bleibt am äußersten Punkt kurz in der Luft stehen, um ebenso gravitätisch zurückzuschweben. Hin und her, her und hin, das Stahlseil ist 67 Meter lang, ein verborgener Magnet sorgt für den immergleichen Schwung. Die achteckige Scheibe unter der Kugel und der äußere Zahlenkreis ersetzen das Sandbett, durch das Foucaults Pendel anfangs seine Spur zog. Langsam, aber unverkennbar wandert die Furche, verschiebt sich entsprechend der Erdrotation. Ein Augenzeugnis, ein echter Beweis.

Wer lang genug hinschaut, gerät in Trance. Das Seil hängt vom Himmel herunter, unter der Kugel dreht die Erde sich weg. Der Boden, der uns trägt, bewegt sich. 32 Stunden braucht die Kugel in Paris, um wieder auf der Ursprungsspur zu schwingen. Stünde das Pantheon am Nordpol, wären es nur 24 Stunden, sagen die Physiker. Ein Schwindel befällt den Laien. Wie bitte funktioniert das? Wer um Himmels willen bekommt das Phänomen der sichtlich aus der Bahn geratenden Kugel mit schlichter Vorstellungskraft in den Griff? Das Seil mit der Kugel hängt doch gar nicht im Himmel, es hängt von der Pantheon-Kuppel herunter, die doch in eben jenem Boden verankert ist, der sich vor unseren Augen bewegt. Ist die Erde ein Mobile, deren Teile sich unterschiedlich bewegen?

Der Kopf schwirrt. Schon verirrt man sich in den eigenen Gedanken über die Kugelgestalt der Zeit und den Tanz der Planeten im Weltall. Ein Labyrinth, undurchdringlich wie das Satzungetüm auf der ersten Seite von Umberto Ecos Tempelritter-Krimi „Das Foucault’sche Pendel“: „Ich wusste – doch jeder hätte es spüren müssen im Zauber dieses ruhigen Atems – dass die Periode geregelt wurde durch das Verhältnis der Quadratwurzel aus der Länge des Fadens zu jener Zahl pi, die, irrational für die irdischen Geister, in göttlicher Ratio unweigerlich den Umgang mit dem Durchmesser eines jeden möglichen Kreises verbindet, dergestalt, dass die Zeit dieses Schweifens einer Kugel von einem Pol zum andern das Ergebnis einer geheimen Verschwörung der zeitlosesten aller Maße war – der Einheit des Aufhängepunktes, der Zweiheit einer abstrakten Dimension, der Dreizahl von pi, des geheimen Vierecks der Wurzel und der Perfektion des Kreises.“ Alles klar?

Es gibt viel zwischen Himmel und Erde, das die eigene Schulweisheit weit übersteigt. Manchmal will man das ja, dieses kribbelige Staunen über das Unermessliche, die Ehrfurcht vor dem, was Kant und Co. das Erhabene nannten. Deshalb sucht der Mensch gotische Kirchen mit ihren himmelhohen Gewölben auf, deshalb besteigt er Achttausender, pilgert auf Trauminseln, entdeckt die Magie von Gärten und Plätzen in Städten. Deshalb lässt er sich in Paris von Foucaults Pendel hypnotisieren und sucht in Rom Hadrians Pantheon auf.

Rom am Abend, bald schließen die Wärter. Der letzte Sonnenstrahl ist nur noch ein Fleck auf dem Kassettengewölbe, schon hat er den Rand des Oculus’ erreicht, das Auge des Pantheons blinzelt noch einmal, dann verschwindet das Licht. Die Rotunde liegt im Schatten, eine Taube flattert in die Kuppel hinein. Trägt sie einen Ölzweig im Schnabel? Keine Angst, es ist nicht das Ende der Zeit. Nur das Ende dieses Tages, dieser Erdumdrehung, dieser Himmelswanderetappe. Das Stimmengewirr der Besucher schwillt an zum kosmischen Summen.

Hiermit endet unsere Serie „Magische Orte“. Erschienen sind: Schloss Ulrichshusen (18.7.), Soufrière auf St. Lucia (25.7.), die Kölner Domplatte (30.7.), der Baquedano-Platz in Santiago de Chile (6.8.), das Theater von Epidauros (11.8.), die Römischen Bäder in Potsdam (13.8.) und das Literarische Colloquium am Wannsee (17.8.)

Zur Startseite