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Kultur: Das Auge des Orkans

Neuer Blick auf ein gewaltiges Werk: Einar Schleefs Fotografien in der Akademie der Künste Berlin

Er war ein Titan, im strengen Sinn der Mythologie. Ein trotziges, unbändiges Wesen von ungeheuren Kräften. Wie sehr sein bedrohlicher Genius dem Theater fehlt – man spürt es körperlich bei all den Rückzugsgefechten, die auf den Bühnen jetzt geführt werden. Der „Puntila“ am Berliner Ensemble, den er an die Rampe wuchtete mit seiner mächtigen Gestalt und einer Stimme, die Stuck und Gold erzittern ließ: Erinnerungen aus den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Äonen scheinen seither vergangen.

Einar Schleef, geboren 1944 im thüringischen Sangerhausen, gestorben 2001 in Berlin, war titanisch produktiv. Er schrieb Theaterstücke. Er setzte seiner Mutter, dem Leben und Sterben in der deutschen Provinz, mit den „Gertrud“-Bänden ein gewaltiges literarisches Denkmal. Er war Bühnenbildner und Maler, Meisterschüler bei Karl von Appen an der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin. Dort nun, im Glashaus am Pariser Platz, öffnet sich der Blick auf Einar Schleef, den Fotografen. Und wieder diese erschlagende Quantität seines Schaffens und Sammelns; 6000 Abzüge und über 600 Kontaktbögen liegen im Archiv. Alltagsaufnahmen in Schwarzweiß. Schleef hatte diese Ausstellung noch selbst geplant, als Parallelaktion zur Herausgabe seiner Tagebücher; Mitte Februar erscheint bei Suhrkamp der Band mit den Jahren 1967 bis 1976. 1976 ging er in den Westen.

Gefrorene Zeit. Verfall. Heimatkunde. Schleefs Fotoserien wirken atmosphärisch kalt, aber emotional warm. Die Berliner „Nachbarn“, 1965. Alte Menschen im Bett, in kahlen Wohnungen. Lachendes Leid. Kleine Ladengeschäfte, Schleef fotografiert die Auslagen: Damenunterwäsche, Nippes, Porzellan, Zigarren, Blutwürste beim Fleischer, es gibt das alles nicht mehr. Es sind ebenso beiläufige wie literarische Bilder.

„Die Geschichte ist tot, indem sie lebt. Sie lebt, indem sie tot ist und eben: Geschichte ist“, schreibt Elfriede Jelinek in dem schönen Katalogband „Einar Schleef. Kontaktbögen“. „Er hat auf dem Theater immer alles gemacht, Inszenierung, Bühne, Kostüme, die Menschen hätte er am liebsten auch noch gemacht, und er hat sie zur Verzweiflung getrieben (...). Und, ich denke es mir nur: Vielleicht waren die Fotografien, die er ständig gemacht hat, dazu da, ihn loszusprechen.“ In Wien hatte Schleef 1998 Jelineks „Sportstück“ in Szene gesetzt, ein vielstündiges Monstrum.

Straßen und Gassen in Sangerhausen, nächtlich-winterlich, der Geruch von Zerstörung, Krieg, anno 1970. Die Poesie eines zufälligen Musters im Asphalt, einer Baumgruppe. Städte als Leerstellen menschlicher Existenz: Schleefs New York mutet an wie eine Fabrikhalle des 19. Jahrhunderts. Berlin, Hauptstadt der DDR: kaputtes Preußen, Hinterhöfe wie in der Nachkriegszeit, ein NVA-Aufmarsch am Zeughaus erscheint wilhelminisch. Schockhaft farbig der Horror der Frankfurter U-Bahn, 1989. Später die aufgelassenen Russenkasernen in fröhlich-bunter Ruiniertheit.

Einar Schleef, ein letzter Universalkünstler. Seine Fotos ergänzen sein Schreiben, und sie schweigen, erzählen für sich. Sie sind still, radikal still, so wie die dröhnenden Theaterchöre auch als Überwindung der Schleef’schen Sprechhemmung verstanden werden konnten. Schleefs Kunst zielte auf Ordnung, die das Chaos der Welt in sich birgt. Neu zu entdecken ist der Fotograf. Und eines Tages auch der Filmemacher. In der Akademie lagern 120 Filmrollen. Immerzu arbeitet es in diesem Mann, noch im Archiv.

Einar Schleef. Kontaktbögen. Akademie der Künste, Pariser Platz. Eröffnung Sonntag, 11.30 Uhr. Es sprechen Rainald Goetz und der Ausstellungsmacher Janos Frecot. Das Begleitbuch (260 Seiten, 28 Euro), hrsg. von Harald Müller und Wolfgang Behrens, ist im Verlag Theater der Zeit erschienen.

Rüdiger Schaper

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