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Kultur: Das bisschen Geruch ist doch nicht der Rede wert

Unterhaltungsroman mit Tiefgang: Torsten Schulz erzählt in „Nilowsky“ von einer Jugend und Pubertät in der DDR.

Zwei Romane sind in diesem Frühjahr erschienen, die zunächst vergleichbar, in Wahrheit aber denkbar verschieden von einer Jugend und Pubertät in der DDR erzählen. Jochen Schmidt unternimmt in „Schneckenmühle“ einen verunglückten Versuch, das Ende des Staates im Geist zotiger Authentizität und mithilfe zahlreicher Jugendfreizeitpeinlichkeiten zu rekonstruieren. Torsten Schulz, der mit seinem Debütroman „Boxhagener Platz“ sehr erfolgreich war und nicht nur Romane, sondern auch Filmdrehbücher schreibt, geht in „Nilowsky“ mehr als ein Jahrzehnt hinter Schmidt zurück. Auch sein Icherzähler Markus Bäcker ist zu Beginn des Romans 14 Jahre alt. Das Thema des Erwachsenwerdens, des Erwachsenwerdenmüssens, das Anbahnen von Freundschaften und Beziehungen und nicht zuletzt auch der immer wieder sehnsuchtsvolle Blick einer Generation nach Westen, hin zur vermeintlich gelobten BRD – all das inszeniert Schulz dezent und geschickt. Das Schräge an „Nilowsky“ ist aufgehoben in einem ernsthaften Interesse für die Figuren. Anders gesagt: „Nilowsky“ ist ein Unterhaltungsroman mit Tiefgang. 1976 zieht Markus Bäckers Familie weg vom Prenzlauer Berg an den äußersten Rand von Berlin. Der Vater hat im dort angesiedelten Chemiewerk eine Stellung als leitender Ingenieur gefunden, sehr zum Unwillen von Markus, der seinen angestammten Kiez ungern verlässt, zumal die neue Heimat höchst unattraktiv wirkt; „das bisschen Geruch, nicht die Rede wert“, sagen die Eltern. Alles hier ist grau, schrammelig und angefault, und Schulz erzählt davon äußerst plastisch, wie er überhaupt ein Faible hat für die kleinen und großen Unappetitlichkeiten, für Pisse, Blut, Kotze und Sperma, vor allem für Letzteres, aber auch das nicht aus Gründen bloßer Effekthascherei.

Von der neuen Bäcker-Wohnung aus blickt man auf den Bahndamm; zwei Stockwerke tiefer befindet sich die Kneipe „Bahndamm-Eck“, die betrieben wird vom alten Nilowsky, einem Säufer und Choleriker vor dem Herrn, der auch seinen 17-jährigen Sohn Reiner nach Belieben grün und blau prügelt. Reiner ist, der Romantitel verrät es, die eigentliche Hauptfigur. Er ist mal rätselhaft verschlossen, dann wieder von überwältigender Offenheit; mal erscheint er naiv bis hin zur geistigen Schwäche, dann wiederum liefert er erstaunliche Geistesblitze. Die Skurrilität des Nilowsky’schen Kosmos ist der Nährboden des Romans. Auf ihm wächst die Freundschaft zwischen Markus und Reiner; in ihm ist die Faszination des Jüngeren begründet, zumal noch eine dritte, weibliche, nicht minder facettenreiche Figur ins Spiel kommt: Carola, vielleicht Nilowskys Freundin, rothaarig, redegewandt. Carola hat beschlossen, nicht älter zu werden als 13 Jahre – sie hält das einige Jahre durch.

Überhaupt ist es möglicherweise das zentrale Grundmotiv des Romans, die Planbarkeit von Lebenswegen und die Möglichkeit der Kontrolle des eigenen Körpers durchzuspielen. Dazu gehört Carolas Nichtalterungsentschluss; dazu gehört die Fähigkeit von Nilowskys Vater, nur dann betrunken zu werden, wenn er selbst es auch will; dazu gehört in letzter Konsequenz auch Nilowskys Gelöbnis, seinen Samen für den ersten Geschlechtsverkehr mit Carola aufzusparen.

Das Szenario, das Schulz aufbaut, erscheint vertraut einerseits, andererseits wird aber ganz kalkuliert mit Exotismen und auch mit Klischees gespielt. Die Mozambiquaner, die in einer Hütte im Wald neben dem Chemiewerk wohnen, arbeiten wahlweise deswegen so wenig, weil sie sich für die Revolution in ihrem Heimatland ausruhen müssen, so Nilowskys These. Oder weil sie schlicht stinkfaul und arbeitsscheu sind, so Markus’ Vater. Zudem üben sie sich in Voodoo-Ritualen und noch dazu einen gewissen sexuellen Reiz auf die weibliche Bevölkerung aus.

In Reiner Nilowsky bricht sich das Unstete und auch das Unangepasste innerhalb eines Angepasstenstaates Bahn. Wenn man Torsten Schulz überhaupt einen Vorwurf machen kann, dann den, dass er die (bis in die wörtliche Rede der Figuren hinein) präzise Milieustudie am Ende aufbricht und der Zeit ungehindert ihren Lauf lässt. Plötzlich beginnt sie zu rasen, aus Wochen und Monaten sind Jahrzehnte geworden. Der Schluss spielt im wiedervereinigten Berlin. Doch immerhin lässt Schulz seinem Helden selbst hier noch seine Mehrdeutigkeit, seine Doppelbödigkeit zwischen dämonischer Anziehungskraft und unwiderstehlicher Unschuld. Christoph Schröder

Torsten Schulz:

Nilowsky. Roman.

Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2013.

286 S., 19,95 €.

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