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Kultur: Das Centre Pompidou feiert den Poeten des Nachtlebens mit einer monumentalen Schau

Als Gyula Halácz 1924 nach Paris kam, hielt er sich für einen Zeichner, vielleicht auch für einen Schriftsteller, aber gewiss nicht für einen Fotografen. Nach einer unglücklichen Episode in der Armee der ungarischen Räterepublik und einigen Semestern an der Berliner Akademie der Künste wurde er Frankreich-Korrespondent ungarischer und deutscher Zeitschriften.

Als Gyula Halácz 1924 nach Paris kam, hielt er sich für einen Zeichner, vielleicht auch für einen Schriftsteller, aber gewiss nicht für einen Fotografen. Nach einer unglücklichen Episode in der Armee der ungarischen Räterepublik und einigen Semestern an der Berliner Akademie der Künste wurde er Frankreich-Korrespondent ungarischer und deutscher Zeitschriften. Bei seinen Streifzügen durch Paris begleitete ihn manchmal sein Landsmann André Kertész, der sich ein Jahr nach ihm auf der Rive Gauche niedergelassen hatte. Von Kertész lernte er, dass der Fotojournalismus - damals ein ganz neuer Berufszweig - seinen Mann recht nett ernährte.

1929 kaufte er seine erste Kamera. Als mit der Wirtschaftskrise die Aufträge aus Deutschland und Ungarn versiegten, wurde aus dem Hobbyfotografen ein Profi. Mit dem neuen Metier nahm Halácz auch einen neuen Namen an. Nach dem Vorbild seines Genossen aus alten Räte-Zeiten, Béla Blasko aus Lugos, der unter dem Künstlernamen Béla Lugosi als Inkarnation des berühmtesten aller Siebenbürger, des Grafen Dracula, Weltkarriere machte, nannte er sich nach seinem Geburtsort Brassó (Kronstadt) Brassaï. Doch ganz mit seinem neuen Beruf identifizieren mochte er sich nicht. Oft sprach er davon, mit der Fotografie Schluss zu machen.

Picasso, dessen Skulpturen er von 1943 bis 1946 aufnahm, bestätigte nur, was er selbst empfand: "Sie besitzen eine Goldmine und betreiben ein Salzbergwerk. Die Fotografie ist doch die totale Selbstverleugnung." Immer wieder wich er auf andere Disziplinen aus. Er zeichnete und sammelte am Meer und in den Bergen Steine, die er zu abstrakten Skulpturen zurechtmeißelte. Fotografische Glasplatten bearbeitete er mit der Graviernadel, wie es schon Delacroix und Corot getan hatten. Vor allem schrieb er weiter. Er hielt nicht nur seine Konversationen mit Picasso fest, sondern auch die Monologe seiner Putzfrau, ein Opusculum, das Samuel Beckett höchst amüsierte.

Auch in Brassaïs Fotografien ist immer wieder der Drang zu beobachten, die Realität hinter sich zu lassen und zu einer höheren Abstraktion zu finden. Manche seiner Pariser Notturnos, die Brücken, Treppen, Silhouetten, sind ein Spiel mit geometrischen Formen. Auch Graffiti, Gemäuer und abblätternder Putz faszinierten ihn. In seinen späteren Jahren hat er sie, ganz gegen seine Gewohnheit, sogar in Farbe festgehalten. Eine Zeitlang liebäugelte er mit dem Surrealismus, dessen Amtsblatt, das üppig aufgemachte Kunstmagazin "Minotaure", seine Dienste gern in Anspruch nahm. Aber wie so viele andere konnte er sich mit dem Dogmatismus André Bretons nicht anfreunden. Später nannte er seine surrealistische Periode "ein Missverständnis".

Berühmt wurde Brassaï als Archivar des Pariser Nachtlebens. Wenn wir an das Paris der dreißiger Jahre denken, dann schieben sich - neben den Filmen von René Clair und Marcel Carné - seine Fotografien vor unser geistiges Auge. Es sind keine feinen Leute, die diese Bilder bevölkern, sondern Nutten und Zuhälter, Conciergen und Clochards, Müllkutscher und kleine Ganoven. Und natürlich die allgegenwärtigen Liebespaare, die in den Bistros selbstvergessen knutschen und den Abend in einem Stundenhotel beschließen. Brassaï hat sie alle abgelichtet. Die Dunkelheit und der Smog, den es in jenen koksbeheizten Zeiten wirklich noch gab, tauchten auch die quartiers populaires in ein magisches Licht. Brassaï war sich dessen wohl bewusst. "Der Nebel ist die beste Kosmetik für eine Stadt", sagte er. Gern erzählt man sich Anekdoten von der Polizei, die den nächtlichen Streuner für einen Einbrecher hielt und verhaften wollte.

Die Wahrheit ist, dass Brassaï in dem Milieu, das er so liebevoll schilderte, wohlgelitten war, dass er seine "spontanen" Szenen sorgfältig inszenierte und besonders verfängliche Situationen von Gehilfen darstellen ließ - was seinen Rang übrigens nicht im geringsten mindert. Zu seinem 100. Geburtstag haben ihm drei amerikanische Museen - das Getty Museum, die National Gallery und das Fine Arts Museum in Houston - gemeinsam eine voluminöse Reiseschau ausgerichtet.

Die Ausstellung des Centre Pompidou ist noch größer. Gut 450 Werke haben sich im Dachgeschoss versammelt - nicht nur Fotografien, sondern auch Skulpturen und Zeichnungen. Bei einem solchen overkill ist es kein Wunder, dass nicht jedes Stück dem strengsten Urteil standhält. Die erotischen Szenen und die gleichgeschlechtlichen Paare, die zarte Gemüter einst schockierten, wirken heute geradezu idyllisch. Brassaï hat die Berühmten seiner Zeit festgehalten, er hat Akte, Stilleben und vieles andere hinterlassen - insgesamt mehr als 40.000 Abzüge. Er war kein Sozialkritiker, kein Reporter, sondern ein Poet, der den kleinen Leuten zu einem Stück Unsterblichkeit verhalf.Bis 26. Juni. Der die Ausstellung begleitende Bildband kostet 390 Francs.

Jörg von Uthmann

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