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Da sind die Nasen. Christopher Annen, Malte Huck, Severin Kantereit und Henning May (von links).

© Universal/Fabien J. R. Raclet

Das Debütalbum von Annenmaykantereit: Ausgezogen, angelogen

Die junge Kölner Band Annenmaykantereit ist eine Sensation. Ihr Album „Alles Nix Konkretes“ ändert daran zum Glück nichts.

Man muss sich die YouTube-Videos von Annenmaykantereit ansehen. Nicht nur, weil es natürlich beeindruckend ist, dass diese verlebte Stimme aus einem schmalen Jungerwachsenenkörper wie dem von Henning May kommt; wenn sich unterm Milchgesicht das Muskeldelta spannt wie bei einem sehnigen Opernsänger. Dieser Zirkuseffekt ist toll, reicht aber nicht, um zu verstehen, dass auch die Band und ihre Musik toll sind.

Wirklich faszinierend ist etwas anderes: die Reise rückwärts in der Bandgeschichte. Die YouTube-Playlist der jungen Kölner Gerade-mal-Ex-Schülerband Annenmaykantereit umfasst inzwischen mehr als 50 Aufnahmen und ist vom jüngsten zum ältesten geordnet. So beginnt man bei den professionellen Videos zu den Singleauskopplungen „Oft gefragt“ und „Pocahontas“ aus dem ersten Album „Alles Nix Konkretes“, das am 18. März erscheint. Man geht weiter über die Kooperation „Hurra, diese Welt geht unter“ mit den Berliner Grenzüberschreitungsrappern K.I.Z. von 2015, geht immer weiter zurück Richtung Bandgründung 2011, zurück ins junge Unfertige.

Es gibt da Zusammenarbeiten mit anderen tollen jungen (und unbekannten) Musikern, es gibt Coverversionen von Police (Roxanne), Beatsteaks (Hand in Hand) und Zarah Leander respektive Brings (Nur nicht aus Liebe weinen), es gibt Konzertmitschnitte und Handkamera-Aufnahmen von Live-Performances in Abbruchhäusern, am Straßenrand oder in polnischen Wäldern. Es gibt viel zu entdecken, im Einzelnen wie im Ganzen, dem atmosphärischen Sog, in den man gerät, wenn man talentierten Menschen beim impulsiven Machen zuguckt, mit 1.-FC-Köln-Halstuch als Dämpfer über der Snare-Drum und Outtakes, die in jungenhaftem Gelächter enden.

Andere deutschsprachige Bands können bei diesen Klickzahlen nicht mithalten

Die größte Entdeckung ist die Eigenständigkeit, die im Windschatten der Wahnsinnsstimme auch die anderen Bandmitglieder, Gitarrist Christopher Annen, Schlagwerker Severin Kantereit und zunächst Lars Lötgering, später Malte Huck am Bass, früh innehaben. Ein rauer, offenporiger Sound, nicht Folk, nicht Rock, nicht zu cool, nur selten zu pathetisch, man muss nix beweisen, heraus aus der Masse der Nachwuchsbands ragt man mit diesem Sänger eh.

So ist es nun kein Wunder und trotzdem irgendwie beruhigend, dass das vielen Menschen gefällt. Bei den explodierenden Klickzahlen und den vielsprachigen Kommentaren aus aller Herren Länder können selbst andere deutschsprachige Bands der Stunde (zum Beispiel Wanda) und Jugendphänomene (zum Beispiel Joko und Klaas) kaum oder gar nicht mithalten. Konzerte sind ratzfatz ausverkauft, das Demo-Album „AMK“ von 2013 längst vergriffen, die EP „Wird schon irgendwie gehen“ tauchte bereits 2015 in den Albumcharts auf.

Und jetzt also endlich das „richtige“ Album, ohne Crowdfunding und Homerecording, dafür unter den Fittichen des Majorlabels Universal. „Alles nix Konkretes“ wurde in den Berliner Hansa-Studios aufgenommen, das Label verweist da natürlich auf Bowie, Iggy und Depeche Mode. Und auf Moses Schneider, Produzent auch von Tocotronic und Beatsteaks, der schon die vorangegangene EP produziert hat und dessen Arbeitsweise „quasi für Annenmaykantereit gemacht“ sei: alle Musiker in einem Raum und dann live einspielen, bis es passt. „Mal läuft ihnen schon beim fünften, mal aber auch erst beim zwanzigsten Take dieser Schauer über den Rücken, der sich bei allen Beteiligten immer dann einstellt, wenn ein Song so gut ist, dass er einfach nicht mehr besser werden kann.“ Soso.

Es ist ein bisschen, wie wenn man tollen Straßenmusikern eine CD abkauft und später enttäuscht ist

Das Ergebnis kann man als Fan der YouTube-Annenmaykantereit allerdings auch gar nicht mal so gut finden. Ein bisschen ist es so, wie wenn man tollen Straßenmusikern eine CD abkauft und später beim Hören denkt: Hä, das hatte doch live viel mehr Drive! Vielleicht liegt es an dem Einspielverfahren, dass Henning May das gurgelnde Drucksingen, manchmal an der Grenze zum Gröligen, nicht mehr ganz so herrlich übertreibt. Wer immer mit der ganzen Band zum perfekten Take gelangen muss, muss mit seinen Kräften haushalten, John Lennon hatte für „Twist and Shout“ ja auch nur einen Versuch, ehe seine Stimme den Geist aufgab. Vielleicht hat auch jemand – im schlimmsten Fall: May selbst sich – gesagt: Mach mal etwas weniger! Vielleicht ist das alles auch zu gut produziert, denn gut produziert ist es zweifellos, fein und präzise.

Aber natürlich: Annenmaykantereits bekanntestes Lied, die Vaterhymne „Oft gefragt“, mit der die Platte beginnt, bleibt groß. Natürlich möchte man den Textbeginn, vorgetragen zu dürr ausklingenden Klavierakkorden, immer noch voller Liebe in einen Grabstein meißeln lassen: „Du hast mich angezogen, ausgezogen, großgezogen. Und wir sind umgezogen. Ich hab dich angelogen: Ich nehme keine Drogen – und in der Schule war ich auch ...“ Und natürlich ist das, popgeschichtlich, mal wieder mindestens die Errettung der Gitarrenmusik aus der Erstarrung im Selbstzitat. Wie immer, wenn eine Band kommt, die sich durch Machen befreit und nicht durch Hören verdorben hat.

Wenn diese Band nicht längst entdeckt wäre, müsste man schreiben: Riesenentdeckung! Tolles Debüt!

Aber es ist doch auch Musik von sehr jungen Leuten. Die Texte dieser jungen Leute halten eigentlich nur dann der spektakulären Stimme stand, die sie vorträgt, wenn mit knappen Worten eine zwischenmenschliche Urerfahrung oder eine Atmosphäre haargenau gefasst wird. Bei „Oft gefragt“ ist das so und auch bei „Barfuß am Klavier“: die Beziehung kaputt, trotzdem noch beide in einem Raum, das Du nackt im Bett, das Ich barfuß am Klavier. „Und du und ich, das war zu wenig“ – sehr knapp und sehr schön.

Ein bisschen possierlich wird’s hingegen, wenn im Fern- und überhaupt Kompliziertbeziehungslied „3. Stock“ rumräsoniert wird: „Ich möchte mit dir in einer Altbauwohnung wohnen.“ Achgottchen. Oder die ganze Sache mit dem Älterwerden in „21, 22, 23“: „Hast du überhaupt ’ne Ahnung, wo du gerade stehst? Du verschwendest deine Jugend zwischen Kneipen und WGs.“ Echt, so schlimm schon?

Und manchmal fällt dann auch musikalisch alles etwas zu weit auseinander. Etwa bei der zweiten Single „Pocahontas“, die im Refrain rumpelt und stampft wie zu langsam abgespielter Rentner-Dixie. Vor der Gefahr kleiner Combos, dass der Gesamtklang dünn wird, wenn sich die Instrumente etwas zu weit in Höhen, Tiefen und Dynamik voneinander entfernen, sind Annenmaykantereit alles andere als gefeit.

Aber genug genörgelt. Wenn diese Band nicht längst entdeckt wäre, müsste man nun schreiben: Riesenentdeckung! Tolles Debüt! Fast kann es melancholisch stimmen, dass beim Erstabspielen von Tonträgern immer seltener eine Epiphanie wartet. Das „große, richtige“ Studioalbum ist hier, wie heute so oft, nur die Bestätigung dessen, was man eh schon mehr wusste als ahnte. Zugleich fehlt ihm, ohne Bilder, ohne Outtakes, ohne die Möglichkeit der musikalischen Reise über die Albumgrenze hinaus, eine ganze Erzähldimension. Eigentlich braucht es so etwas, ein Album, gar nicht mehr.

Das Album „Alles Nix Konkretes“ erscheint am 18. März bei Universal. Das Konzert am 9. Mai im Tempodrom ist, wie alle anstehenden landesweit, ausverkauft.

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