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Kultur: Das Drama von Berlin

Eine

von Peter von Becker

Sechs Minuten zuvor war er noch ein Fußballgott, da lenkte Italiens Buffon diesen wunderbaren Kopfball von Zidane noch mit den Fingerspitzen über die Latte. Als hätte sich die Zeit wiederholt: Mit einem Kopfstoß in eben dieser Weise hatte Zidane 1998 Frankreich zum Weltmeistersieg über Brasilien verholfen. Jetzt stand es in der Verlängerung von Berlin immer noch 1:1, aber die Italiener waren längst am Boden, und Zidane schwebte schon zwischen Himmel und Erde. Bis er nur einen fußballhistorischen Wimpernschlag später mit seinem zweiten Kopfstoß alles zerstörte. Noch wissen wir nicht, was in dieser unvergesslichen, unbegreiflichen 110. Minute in und mit Zidane geschah, so kurz vor dem letzten, endgültigen Triumph. Das Wort „tragisch“ wird im Sport und im Leben ja gerne inflationiert. Aber Zidanes jäher Sturz, nach der stierkampfähnlichen Attacke gegen den Italiener Materazzi, hat alle Ingredienzen des Mythos und der klassischen Tragödie.

Ein Mann verspielt wider allen Verstand von einer Sekunde auf die andere sein größtes Glück. Wie ein Shakespeare-König, wie jener afrikanische Othello, der seine italienische Desdemona meuchelt, die doch seine Liebe ist. Othellos Eifersucht war grundlos, eingeflüstert, und im Grunde konnte er es wissen. Aber die Dämonie jener Mächte, mit denen für den eben noch siegreichen Feldherrn und Lover „das Chaos“ wiederkehrt, ist stärker. Dämonisch wirkt auch beim Fußballdrama der Wiederholungszwang: der doppelte Kopf-Einsatz – und die Erinnerung daran, dass bereits Luis Figo, der andere große Scheidende unter den Kapitänen und Mittelfeldstrategen, seine Karriere zuvor fast mit einem Kopfstoß-Foul beendet hätte.

Eine Götterdämmerung. Köpfe grollen und Helden fallen im Wahn. Der griechische Mythos kennt Krieger, die sich in Stiere verwandeln und als Hornochsen erscheinen. Oder Menschen, denen an Erfolg und Glanz zu viel zuteil wurde; dann heißt es im Parzenlied der sophokleischen „Iphigenie“, die Irdischen mögen die Himmlischen fürchten, die aus Neid oder Laune das Schicksal der Menschen plötzlich wenden.

Nach der Götterdämmerung aber folgt ein neues Lied. Nun liegt aller Lösungen Rätsel, wie bei Othello, in uns selbst: „Ungeheuer ist viel. Doch nichts ist ungeheurer als der Mensch“, auch das sagt Sophokles, mit Hölderlins Zunge in der „Antigone“. Dieses nicht Erklärliche ist neben dem Ausweglosen der Kern der Tragödie. Das dunkle Herz des Dramas. Spielen reine Vernunftmenschen gegeneinander, gibt es nie diese unberechenbare Spannung. Dann fallen vor lauter Taktik auch keine Tore, dann stürzen keine Helden. Es ist eine heldenlose Zeit.

Für die Politik nannte Brecht dies ein friedliches Glück. Das aber ist der Unterschied zwischen Politik & Krieg und der Kunst und dem Sport. Für den Fußball gehört Zidanes Unglück zum Drama – und darum mit zu seinem und unserem Glück.

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