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Kultur: Das einsame Tier im Bau

Magisch: Philippe Le Guillou besucht Julien Gracq

Von Gregor Dotzauer

Julien Gracqs Leser bildeten schon zu seinen Lebzeiten eine Art „Geheimgesellschaft“, wie Philippe Le Guillou, eines ihrer innigsten Logenmitglieder, aus Erfahrung weiß. Drei Jahre nach Gracqs Tod, zu dessen 100. Geburtstag am 27. Juli, erinnert er noch einmal mit zwei bewegenden Besuchsporträts an den französischen Solitär. Die Form ist dabei eigentlich eine Unmöglichkeit. Denn als Person blieb Gracq, der als Schriftsteller eigens seinen bürgerlichen Namen Louis Poirier abgelegt hatte, weitgehend unsichtbar.

Hinter der „Gottheit in Fetzen“, als die Gracq, so Le Guillou, jede romanhafte Totalität betrachtete, leuchtet in den Tausenden von „fliegenden Blättern“, in denen sich sein Schreiben „am Saum der Erzählung und des Gedichts“ eingerichtet hatte, Lebensgeschichtliches nur alabasterfern hindurch. Zugleich begreift man den „Organismus“ Gracq nur ansatzweise, wenn man nicht die Landschaft kennt, die ihn hervorbrachte, und den Ort, an dem er lebte: Saint-Florent-le-Vieil.

„Das Mittagessen am Ufer der Loire“, der essayistische Bericht von einer Zugreise zu Gracq an einem klirrend kalten, leuchtenden Februartag des Jahres 1997, gefolgt von der 2006 entstanden Skizze „Monsieur Gracq“, gewinnt seine Magie indes gerade daraus, dass Le Guillou weiß, wie schnell Besuche bei Schriftstellern in literaturferne Idolatrie münden – erst recht, wenn man einen „Tabernakel“ mit Erstausgaben und einen „Reliquienschrein“ unterhält. Doch weil er sich Gracq nicht auf Knien nähert, sondern mit der Empathie eines Erzählers, der selbst das lebenszehrende „Geheimnis der Tintenstunden“ enträtseln will, in deren Schatten man sich selbst als „eigenartiges Tier, in seinem Bau“ versklavt, verleiht er auch der „immateriellen Einsamkeit“ des Lesers einen glücklichen Sinn.

Le Guillous Essay nimmt Abschied von einem Jahrhundert, dessen letzten „ganz Großen“ er in Gracq erblickt. „Alle anderen sind nicht mehr. Char, Mandiargues, Cioran, Michaux.“ Er sammelt Reminiszenzen an Gracqs Briefpartner André Breton und Einsichten in eine schleichende Zeitenwende. „Die letzte Bewegung“, erklärt Gracq, „war der Surrealismus. Der Nouveau Roman gründete auf der Form, und nicht auf der Sensibilität.“ Eine Hommage von seltener Prägnanz: Wer Gracq nie gelesen hat, wird es nach dieser Lektüre sofort wollen. Gregor Dotzauer

Philippe Le Guillou: Das Mittagessen am Ufer der Loire. Zu Besuch bei Julien Gracq. Aus dem Französischen v. Dieter Hornig. Literaturverlag Droschl, Graz 2010. 109 Seiten, 15 €.

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