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Kultur: Das Ende der Regie

Dreifacher Wahnsinn: das Théâtre de Lucioles aus Paris beim Festival „France en Scène“ in Berlin

Daphnée wollte eigentlich nur auf die Toilette gehen. Kaum ist sie verschwunden, kommt sie schreiend wieder heraus, mit einer Pythonschlange in den Händen. Nun wird es statt des geplanten Silvesteressens Schlange mit Rattenfarce geben, in einem Appartement im 13. Stockwerk eine Hochhauses im modernen Défense-Viertel im Westen von Paris. Ein Hubschrauber stürzt ab, ein Hochhausbrand entwickelt sich. Aber all das ist nur die grelle Folie für die menschlichen Katastrophen, die ein Schwulenpärchen, ein Transvestit, eine Kindsmörderin und eine athletischer Jüngling namens Achmed erleben.

In einer überdrehten, von Acid, Alkohol, Sexgier und Hysterie angetriebenen Nacht wird keine Verrücktheit ausgelassen. „La Tour de La Défense“ stammt aus den Siebzigern, aus der Zeit der Happenings, von Filmen wie „La grande Bouffe“, der Psychoplays und Grenzüberschreitungen. Es ist die Zeit, in der Paris ein riesiges Verwaltungszentrum für seine Weltkonzerne baut: einen Triumph der Moderne, einen Albtraum an Rationalität.„Ich hätte mich mit 17 umbringen sollen“, heißt es im ersten Satz des Stückes, als wäre der im Konversationston dahingesprochene Satz Programm.

Das von dem Zeichner und Theatermacher Copi 1978 geschriebene Stück hat Marcial di Fonzo Bo kongenial inszeniert. Er forciert das Tempo in diesem hybriden Genremix zwischen Crime-Story und Vaudeville, treibt seine Akteure in einen Strudel, wie man ihn von der Boulevardklamotte kennt, macht sie zu Kunstwesen eines Comics. Das Stück belegt im Programm des Berliner Festivals „France en Scène“ eine Außenposition. Es stammt aus der Feder des nach der Peron-Ära aus Argentinien nach Frankreich ausgewanderten Raul Taborda Damonte, der sich im Exil den Kunstnamen Copi zulegt. Wie für viele andere Kinder des frankophilen Bürgertums in Argentinien ist Paris das Ziel für den Zeichner und Autor, der sich in den Cafés der Metropole mit dem Verkauf seiner Zeichnungen durchschlägt, bevor der „Nouvel Observateur“ auf ihn aufmerksam wird.

Marcial di Fonzo Bo hat in Avignon im vergangenen Sommer diesem Aspekt der Biografie des Argentiniers ein eigenes Stück gewidmet. Der Schauspieler und Regisseur, selbst im Jahre 1987 aus Buenos Aires nach Frankreich übergesiedelt, fühlt sich dem im gleichen Jahr 48-jährig verstorbenen Landsmann verbunden und einer Zeit, in der argentinische Künstler ihren speziellen Beitrag zur kleinen Kulturrevolution der siebziger Jahre beitrugen – irgendwo zwischen Camp und Kult und einer unnachahmlichen Verrücktheit. Man kann den Ausnahmeschauspieler di Fonzo Bo außerdem in „Je crois que vous m’avez mal compris“ des Argentiniers Rodrigo Garcias sehen.

Di Fonzo Bo führt in Copis „Schlangennest“ Regie und spielt einen smarten, einen durch die Katastrophenereignisse einer Vorhölle tänzelnden Gay. In Berlin war er zuvor nur einmal vor vielen Jahren auf der Bühne zu sehen, als Richard III. in Matthias Langhoffs französischer Inszenierung. Extremwelten hat er in Claude Régys Inszenierung „Paroles du Sage“ ausgelotet, als er Texte aus den biblischen Lehrbüchern in einen völlig verfinsterten Theatersaal hauchte, bis sich nach einer Dreiviertelstunde ein zarter Schimmer einer möglichen Dämmerung ahnen ließ.

Vor allem hat er vor zehn Jahren das „Théâtre des Lucioles“ mitgegründet, dem „France en Scène“ einen eigenen Schwerpunkt widmet. Dieses Schauspielerkollektiv setzt sich von der französischen Compagnieszene ab. „Wir haben uns als Kollektiv ganz anders organisiert als übliche Truppen“, sagt Marcial di Fonzo Bo: „Normalerweise scharen sie sich um einen Autor oder einen Regisseur und werden dann zu einer verschworenen Gemeinschaft. Unser Verständnis des Kollektivs ist eher umgekehrt – die Schaffung einer gemeinsamen Plattform, die sich ständig Künstlern von außerhalb öffnet.“

Der große Erfolg der losen Gruppe liegt gerade darin, dass hier eine direkte Beziehung zwischen Autor und Akteur, Text und Interpret gesucht wird, ohne die Vermittlung des Regisseurs. Marcial di Fonzo Bo stört nach eigenen Arbeiten mit Claude Régy, Matthias Langhoff und Luc Bondy immer mehr, wenn er im Theater durch Regisseurshandschriften egalisierte Spielweisen sieht. Er glaubt, „dass die Ära der großen Regisseure wie Patrice Chéreau oder Matthias Langhoff, der Status der Regiediven wie Giorgio Strehler zu Ende geht. Sie arbeiteten in einem ganz anderen ökonomischen Rahmen. Das waren opulente Zeiten. Jetzt, nachdem solche ökonomischen Modelle der Vergangenheit angehören, können keine neuen Regiestars mehr nachwachsen. Unsere Epoche wird keine Strehlers oder Chéreaus mehr hervorbringen.“

Noch vor wenigen Jahren wäre kaum denkbar gewesen, was jetzt geschieht: Das Festival France en Scène lässt nicht nur die etablierten französischen Regisseure weitgehend links liegen, sondern auch die großen Häuser, die jahrzehntelang Brennpunkte im französischen Theater waren. Ein Festival ohne die Theater von Nanterre und Gennevilliers, ohne das TNP in Villeurbanne, das TNS in Straßburg, das Odéon und das Theatre de la Colline in Paris? Gleichwohl kann auch das Théâtre des Lucioles, das „Theater der Glühwürmchen“ mit seinen 400 000 Euro Jahresbudget eine Produktion wie das „Schlangennest“ kaum stemmen. Das bretonische Nationaltheater in Rennes, dem Marcial di Fonzo Bo als assoziierter Künstler angehört, hat die Produktion finanziert.

In der Bretagnestadt hat sich das nach gemeinsamem Studium gegründete Theaterkollektiv angesiedelt. Neben Copi hat sich die Truppe mit Fassbinder, Jean Genet, Pasolini befasst, Ikonen der Schwulenliteratur. In „Mes jambes si vous saviez, quelle fumée“ wird die Welt des exzentrischen Fotografen und Zeichners Pierre Molinier vorgestellt: Travestie und Fetischismus, in der Pierre Maillet den 1900 geborenen libertären Anarchisten spielt. Auch in diesem Pandämonium der Obsessionen geht es nicht um kunstvolle theatralische Umsetzungen, sondern um möglichst direkte Anverwandlung des Interpreten an das biografische Material – Theater von Künstler zu Künstler. Auch wenn diese Arbeit mit Bruno Geslin einen Regisseur hatte: Das Schauspielerkollektiv der Lucioles und Marcial di Fonzo Bo rufen das Ende der Theaterregie aus. Das zeigt sich auch in der in alle Richtungen auskeilenden Ästhetik ihrer Arbeiten.

„La Tour de La Défense“ vom 29. bis 31. 3. in der Schaubühne; „Je crois ...“ am 27. und 28. 3. in den Sophiensaelen; „Mes jambes ...“ am 28. und 29. 3. im HAU 3.

Eberhard Spreng

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