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Ein Favorit am Lido. „The Distinguished Citizen“ von Mariano Cohn und Gastón Duprat (vorn, kniend).

© dpa

Das Filmfestival von Venedig 2016: Des Lebens Lügen

Frauen gegen den Rest der Welt: Eine Bilanz des 73. Filmfests Venedig. An diesem Samstag werden die Löwen verliehen.

Auf jedem Festival gibt es Filme, vor denen einem bang ist. Zum Beispiel vor der Rückkehr von Emir Kusturica, der seit seinem letzten Spielfilm vor über zehn Jahren als großserbischer Nationalist von sich reden machte. „On the Milky Road“, der den Wettbewerb der Mostra del Cinema beschließt, erweist sich als angestrengtes Eigenzitat, als Balkanpopkino mit Monica Bellucci als kuhmelkender Naturschönheit und Kusturica selbst als Bergdorftrottel mit Esel, Hackbrett und Wanderfalke. Ach, diese wildvergnügten Serben, die im Kugelhagel mit den Ohren wackeln und sich ihre Lebensfreude nicht nehmen lassen! Gleich in der Eröffnungsszene baden die Gänse im Blut eines frisch geschlachteten Schweins.

Das Kino hält ja überhaupt eine begrenzte Zahl von Geschichten bereit. Boy meets girl. Einer gegen den Rest der Welt. Schuld und Sühne. Die Rache ist mein ... Auf Filmfestivals kann man sehen, welche Varianten aktuell sind. In Venedig tat Amy Adams sich mit tintenschriftkundigen Aliens zusammen („Arrival“), beglückte eine Sexkrake junge Mexikanerinnen, die unter dem Machismo leiden („The Untamed“), liebte ein Kannibalen-Opfer den Kannibalen („The Bad Batch“). Die Liebe sucht das Extrem.

Den Kampf auf verlorenem Posten tragen meistens die Frauen aus. Eine gegen den Rest: Dakota Fanning im gewaltverherrlichenden Spätwestern „Brimstone“, Natalie Portman als Kennedy-Witwe „Jackie“, Judith Chemla im männerdominierten 19. Jahrhundert („Une Vie“), Paula Beer im Nachkriegsdrama „Frantz“. Nicht zuletzt die atemberaubend wandlungsfähige Charo Santos-Concio im Vier-Stunden-Film „The Woman Who Left“ von Lav Diaz. Eine Reise in die Seelenfinsternis. Jedes einzelne, sorgsam komponierte Bild eröffnet eine Bühne für den Schmerz, die Geschichte, die sozialen Missstände der Philippinen. Lav Diaz ist zurzeit wohl der fleißigste Autorenfilmer der Welt; gerade erst gewann er Silber auf der Berlinale, für einen Achtstünder.

Horacia wird 1997 aus dem Frauengefängnis entlassen, nach 30 Jahren. Ihr Gatte ist tot, der Sohn verschollen, ein reicher Clan-Chef hatte sie unschuldig hinter Gitter gebracht. Horacia sucht Rache; auf ihrer Odyssee begegnet sie den Armen und Ausgestoßenen, einer Bag lady, einem Straßenverkäufer, einem kranken, misshandelten Transvestiten. Horacia beobachtet, tröstet, mischt sich ein, weckt Lebensmut, eine Mutter Teresa mit Flipflops, Basecap und Knarre. In der schönsten Szene dieses Jahr am Lido singt sie mit dem Transvestiten „Sunset, Sunrise“ aus „Anatevka“, mit der Haarbürste als Mikrofon.

„I don’t remember growing older.“ Diaz’ Film fragt auch nach dem versäumten, gestohlenen Leben. Ist man noch der, der man einmal war? Das Kino, diese Zeitmaschine, ist prädestiniert für die Frage, auch deshalb die zahlreichen Leinwandversuche über Verrat, Sühne, Rache. „The Light Between Oceans“, Tom Fords „Nocturnal Animals“ und François Ozons „Frantz“ verhandeln die schuldhafte Verstrickung im Angesicht der Gewalt und der Sehnsucht, die Feigheit vor der Liebe. Ist die Lüge das bessere Überlebensmittel? Gerne machen sich die Menschen etwas vor, um bloß nicht die zerstörerische Kraft der Wahrheit zu entfesseln.

Die Besucherzahlen sind gestiegen

Ist das Kino noch das, was es einmal war? Es streckt sich zur Decke, weicht seinerseits von der Norm ab, mit drei Schwarz-Weiß-Filmen im Wettbewerb, zwei Produktionen im fast quadratischen Academy-Format 4:3, zwei Dokumentaressays, Wim Wenders’ 3-D-Werk „Die schönen Tage von Aranjuez“, etlichen Beiträgen in Cinemascope. Terrence Malick feierte die heilige Messe am Lido mit seinem auch für Imax-Kinos vorgesehenen Schöpfungsepos „Voyage of Time“, eine der ärgerlichen Lügen dieses Lido-Jahrgangs. Malick blendet das Publikum mit Vulkaneruptionen, Andromedanebeln, Urviechern zu Wasser und zu Lande und der 360-Grad-Kamerafahrt um einen Pottwal. Nichts gegen Tricks im Kino, aber die faszinierendsten Phänomene des Planeten als computergenerierte Fakes, esoterisch beraunt von Cate Blanchett?

Die Natur als Show, konsequentes Arthouse-Kino, US-Blockbuster: Das Wagnis eines disparaten Wettbewerbs zahlt sich aus. Neben Lav Diaz und „Jackie“ gehören auch Tom Fords starbesetzter Collage-Thriller, das Musical „La La Land“ und die argentinische Tragikomödie „The Distinguished Citizen“ zu den Löwen-Anwärtern. Die Juroren, unter anderem Sam Mendes, Laurie Anderson und Nina Hoss, haben es nicht leicht vor der Preis-Gala an diesem Samstag. Alles, was auf einen Oscar oder größere internationale Vermarktung hofft, zieht nun weiter zum Filmfest Toronto, und schon nach der Hälfte des Festivals meldeten die Organisatoren gestiegene Besucherzahlen, 13 Prozent mehr als die 50 000 verkauften Tickets im Vorjahr. Offenbar wurden endlich halbwegs erschwingliche Unterkünfte für junge Cineasten bereitgestellt. Von einem Publikumsfestival wie der Berlinale mit zuletzt 336 000 verkauften Tickets ist Venedig dennoch weit entfernt.

Mein Leben, das sind die Menschen über die ich geschrieben habe, sagt der italienische Kriegsreporter Domenico Quirico in „The War Within“, einer der Syrien-Dokumentationen in den Nebenreihen. Ein Festival, das sind die Menschen, die man im Kino kennengelernt hat. Dieses Mal sind es jene Frauen, die der eigenen Selbstbehauptung und Selbstinszenierung ihre Wahrheit abtrotzen, allen voran Natalie Portman als Jackie Kennedy und Horacia bei Lav Diaz. (Macht euch ruhig ein Bild von mir, mein Geheimnis gebe ich nicht preis.)

Kino ist die Vortäuschung falscher Tatsachen, immer wieder neu. In „The Distinguished Citizen“ von Mariano Cohn und Gastón Duprat fährt ein argentinischer Literaturnobelpreisträger nach Jahrzehnten in seinen Heimatort in die Provinz zurück. Anders als seine übrigen Leser wissen die Bewohner von Salas genau, aus welchem Stoff er seine Romane destilliert hat. Es sind sie selbst, es erfüllt sie mit Stolz, und mit Misstrauen auch. Wer Geschichten erzählt, wird unweigerlich zum Vampir. Und der Erzähler erlebt eine doppelte Heimsuchung, in einem raffinierten Vexierspiel zwischen Wahrheit und Verrat, Erfindung und Lüge. Am schönsten ist die Fiktion dann, wenn die Wirklichkeit sich an ihr rächt.

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