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Kultur: Das gelbe Band

Jedem, der während der U-Bahn-Fahrt auf der Linie 2 zwischen Bülowstraße und Gleisdreieck aus dem Fenster guckt, fällt der langgestreckte, weiß-gelbe Bau ins Auge. Fast glaubt man ihn mit Händen greifen zu können, so nahe rückt die südliche Gebäudeecke an die Hochbahn heran.

Jedem, der während der U-Bahn-Fahrt auf der Linie 2 zwischen Bülowstraße und Gleisdreieck aus dem Fenster guckt, fällt der langgestreckte, weiß-gelbe Bau ins Auge. Fast glaubt man ihn mit Händen greifen zu können, so nahe rückt die südliche Gebäudeecke an die Hochbahn heran. Gewinnt man dann Abstand, so erkennt man den dynamischen, aus zwei Teilen zusammengesetzten Riegel, der sich den Gleisanlagen entgegenstemmt. Zentraler Blickfang ist eine Art gelbes Leuchtband in Höhe des zweiten und dritten Geschosses. Obgleich diese Perspektive bei vielen BVG-Nutzern Neugierde wecken dürfte, ist das Zwiegesicht der Wohnanlage, die dem kleinen Nelly-Sachs-Park seine Fassung gibt, wohl nur Eingeweihten bekannt.Dem Berliner Architekten Rainer Oefelein gelang hier am "Dreiländereck" - in Schöneberger Grenzlage zu Tiergarten und Kreuzberg - ein stadträumliches Arrangement, das so grundgescheit wie unaufdringlich eine schwierige Situation meistert: nämlich zu vermitteln zwischen einem darbenden Westentaschenpark, mehr oder minder vereinzelten Reminiszenzen einer gründerzeitlichen Baustruktur sowie einem Niemandsland aus Gleisen, Kleingärten und Lagerschuppen. Herausgekommen ist, mit den Mitteln des sozialen Wohnungsbaus, ein veritables Stück Stadtreparatur.Freilich war der Weg dorthin, wie so oft in Berlin, lang und steinig. Bereits Ende 1987 hatte man einen Bauwettbewerb ausgelobt, der sich der Neuordnung des Gebietes, aber auch der Verkehrsführung sowie der Inselsituation des Dennewitzplatzes mit der neogotischen Luther-Kirche widmete. Oefelein gewann damals die Konkurrenz, aber erst 1995, nach sukzessiven Überarbeitungen, konnte endlich, unter der Trägerschaft der WIR, mit dem Bau begonnen werden. Das Rückgrat des Entwurfs und die Barriere zum Bahngelände bildet ein Nord-Süd-verlaufender, horizontal gegliederter, plastischer Baukörper von fünf Geschossen. Entlang der Dennewitzstraße wurde das solitäre Relikt einer ehemaligen Randbebauung um zwei kubische Bauten ergänzt. Komplettiert wird das Ensemble durch ein Eckgebäude an der Kurfürstenstraße, das das dreieckige Baugelände erst zu einem Binnenraum macht. Eine ehemals zerissene Randzone inmitten der Stadt erhält durch ein Bauvolumen, das immerhin 141 Wohneinheiten Platz bietet, eine neue Fassung und erfährt eine weithin spürbare Aufwertung.So plausibel und notwendig an dieser Stelle der langgestreckte Riegel auch sein mag, so wenig will er wie viele andere sein. Zwei unterschiedliche Gesichter weist er auf: hart und kantig nach Osten, weich und geschwungen zur Nachmittags- und Abendsonne im Westen. Die zurückgenommene, strikt rationale und nur durch gelbe Thermohaut akzentuierte Formensprache zur Bahnseite korrespondiert mit einem parkseitigen Flair, das in seiner einladenden Großzügigkeit alles andere als alltäglich ist. Insbesondere der sanfte Kontrast zwischen der schwingenden Fassade der Wohngeschosse und dem gradlinig durchlaufenden Dachkörper, der sich wie ein Architrav darüberlegt, überzeugt. Daß das oberste Geschoß für Abstell- und Nebenräume genutzt wird, war unvermeidlich, weil eine Tiefgarage - ungeahnt splendid für den sozialen Wohnungsbau - das Anlegen von Mieterkellern verhinderte. Das gereicht der Architektur indes keineswegs zum Nachteil: Das Drempelgeschoß bietet einen sinnigen Klimapuffer und dazu ein Erscheinungsbild, das mit seinen kleinen Lüftungsöffnungen geschickt an alte Mietshaustraditionen anknüpft. Durch eine trichterförmige Unterbrechung im spannungsvollen Verhältnis von eins zu zwei geteilt, wird der Riegel wirksam dramatisiert. Ein Manierismus ist das gleichwohl nicht, stellt diese Zäsur doch die Option auf einen (öffentlichen) Durchgang dar, falls dereinst aus dem Gelände des ehemaligen Potsdamer Bahnhofs doch noch ein Park werden sollte.Alle Wohnungen verfügen zur Parkseite entweder über Mietergärten oder Loggien. Durch Unterteilung der Balkone in offene und verglaste Bereiche und ihre Verbindung durch die Brüstungsgeländer variiert Oefelein das Wechselspiel von Transparenz und Geschlossenheit. Im Wortsinne auf die Spitze getrieben wird dieses Spiel mit einem gläsernen zweigeschossigen Keil, der sich, als ideelle Verlängerung der Dennewitzstraße, förmlich in die Kurfürstenstraße spießt.Vis-à-vis der langen Wohnzeile hat Oefelein einen seiner Nachbarn verlustig gegangenen Altbau durch zwei freistehende Stadtvillen eingebunden. Ihre Fassaden interpretieren auf bemerkenswerte Weise die Proportionen und Gliederungselemente des hundert Jahre älteren Solitärs. Da für die beiden Neubauten aus Kostengründen ein Aufzug nicht in Frage kam und sie daher nicht mehr als vier Stockwerke haben durften, kompensieren sie ihre geringere Höhe mit filigranen Metallpergolen auf den Dächern. Wie Geschwister verbunden, stehen die drei neuen Häuser heute da.Jener Wohnungsbau, der mit Bruno Taut und Martin Wagner in den zwanziger Jahren fröhlich Urständ feierte, erlebt am Nelly-Sachs-Park ein zeitgemässes Revival, indem nicht nur dessen Formensprache, sondern auch sein gesellschaftlicher Optimismus aufgegriffen wird. Die städtebauliche Haltung, die Rainer Oefelein hier an den Tag legt, gibt sich kompromißlos, basiert aber auf einem subtilen Ausgleich unterschiedlicher Sphären. Es gelingt ihm, sowohl dem Kompositionsgedanken als auch dem Anspruch, ein Abbild der inneren Struktur und eine stadträumlichen Hierarchie zu schaffen, gerecht zu werden. Nur so konnte ein schlüssiges Gesamtkonzept von geometrischer Klarheit und urbanen Qualitäten entstehen: Selbstbewußt und unprätentiös in Szene gesetzt, gleichwohl getragen von einem Hauch Poesie.

ROBERT KALTENBRUNNER

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