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Kultur: Das Gespenst der Vollkommenheit

Die Gedenkstätte Sachsenhausen zeigt das Panoptikum des KZ-Kommandanten Koch

Der Blick der Kamera schweift an der Seite des MG aus dem Wachturmfenster über Hütten und Stacheldraht, die ganze Welt. Ihr Auge fixiert den kleinsten und den größten Lagerbewohner, groteske Gestalten mit abstehenden Ohren, in geflickter Montur, angetreten für den Schnappschuss des Kommandanten. Sie lichtet das Stillleben der Spindordnung ab, gewienerte Stiefel, auf Kante gereiht, schwarze Hakenkreuzjacken und die Primelpötte am Todesstreifen. Sie schwebt wie das Objektiv eines ungerührten Gottes überm Appellplatz, über blockweise angetretenen Häftlingen und zwei Uniformierten mit einem Stuhl in der Mitte des riesigen Areals, das von Gleisen einer Lorebahn durchzogen wird, begrenzt von ersten Baracken, einem Wachturm und Wald am Horizont hinter der Mauer, wo die Welt zu Ende ist.

Das vor vier Jahren in einem Moskauer Archiv entdeckte, seit gestern in der Gedenkstätte Sachsenhausen ausgestellte Fotokonvolut des KZ-Kommandanten Karl Otto Koch zeigt die Panoptikumperspektive optimaler Gefängnisarchitektur: Dem Kontrolleur soll kein Objekt verborgen bleiben. Dabei bieten die Abzüge mit Zackenrand Historikern, was den Zeitraum 1933-37 und die Dienst-Perspektive betrifft, zwar großen Informationsgewinn, wirken jedoch ansonsten zunächst unspektakulär. Ihre Bedeutung erschließt sich aus Zusammenhängen, aus lakonischen oder ironischen Bildunterschriften. Keine Gräuel, die Direktoren des Panoptikums haben ihre Motive ausgewählt. Man zeigt Personen, Dinge, Orte; ein System. Der thrill entsteht im Kopf des Betrachters.

Wer sich heute der Mühe unterzieht, verstehen zu wollen, was unter den Rubriken „NS-Regime“ und „Holocaust“ berichtet wird, stößt trotz optimaler Forschungslage auf unterschiedliche Arten von Unverständnis. Jüngeren Generationen fehlt eigener Bezug zu dem fernen Horror, der ihnen deshalb über „Personalisierung“ nahegebracht werden soll. Menschen, die in postkolonialistischen Kulturkreisen sozialisiert wurden, ist das Spezifikum dieses Zivilisationsbruchs selten vermittelt worden. Selbst Deutsche, die sich mit dem Thema intensiv beschäftigen, geben zu, dass sie das, was da passiert ist, mit den Jahren immer weniger verstehen können. Tatsächlich erschließt sich das Phänomen des einzigartigen deutschen Staatsterrorismus nur über mehrfache Ebenen der Annäherung. Es geht um die zentrale und um die dezentrale Perspektive. Es geht um das systematisierte Verbrechen und sein System. Es geht um Vollstrecker im Apparat, die Formierung ihrer corporate identity – und um ihre Opfer. Um Schnittstellen zwischen System und funktionierender Person, um nachvollziehbare Erfahrung: Verwaltungsalltag.

500 Fotografien von den Karriere-Stationen des Karl Otto Koch in den KZs Hohnstein, Sachsenburg, Columbia-Haus Berlin, Esterwege und Sachsenhausen illustrieren diese Zusammenhänge. Bislang waren aus der KZ-Welt nur Propagandafotos, Privatknipserei der SS und Aufnahmen der Befreier bekannt. Das Dienstalbum des stolzen Fotoamateurs Koch zeigt dessen Ausbeute, wie er die Welt sah und ihn selbst in Bildern seines Referenten, der damit ein Geschenkbuch komponierte. Überraschend für jeden, der meint, genug über NS-Schrecken zu wissen, erscheint in diesem Panoptikum nicht die Herrenmenschenpose der SS oder die Demütigung der „Untermenschen“. Der Erkenntnisgewinn liegt im Fokus des Zeitabschnitts. Die ersten KZs des „Dritten Reiches“, zur Rache an politischen Gegnern in vorhandenen Gebäuden eingerichtet, werden ab 1936 aufgelöst oder reorganisiert. Ein neuer KZ-Typus entsteht, im Dienst konsequenter Rassen- und Bevölkerungspolitik, ökonomisch und logistisch perfekte Komplexe: Häftlingslager, SS-Truppenlager, Industrielager samt Siedlung für SS-Familien.

Das KZ Sachsenhausen steht beispielhaft für die Entwicklung solcher Effektivität. Es wurde vor 70 Jahren, zwei Jahre nach der Auflösung des im Stadtzentrum angesiedelten KZ Oranienburg, idealtypisch auf dem Reißbrett konzipiert. Innerhalb eines Jahres werden durch Häftlinge 80 Hektar Wald gerodet, 100 Gebäude errichtet; später expandiert das Lager auf 400 Hektar. Sein erster Architekt Bernhard Kuiper freut sich über „das schönste KZ Deutschlands“, mit Teich und Zoo in der SS-Siedlung. Doch weichen Kuipers heimelige Fachwerkarchitektur, sein Lagertor, seine Wachtürme bald schmucklos-funktionaleren Gebäuden. Für die Neuerfindung des KZ-Systems steht Sachsenhausen auch, weil nah dem Tor mit der Gusseisen-Schrift „Arbeit macht frei“ 1938 ein Bürogebäude errichtet wird, in das die Zentralverwaltung aller KZs (später auch einiger Vernichtungslager) einzieht. Heute teilt sich die Finanzbehörde dieses Haus mit der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten. Nebenan besichtigen 350 000 Besucher jährlich zehn Dauerausstellungen an authentischen Orten des Geschehens.

Die neue Wechselausstellung präsentiert 200 Fundstücke im Format 18 mal 24 auf grauen Wänden. Den Täter-Blick konterkarieren Häftlingszitate auf violetten Texttafeln. Wo Koch mit seiner Dogge einen vielsagenden Schatten auf das Lagergefängnis wirft, ergänzt ein Ohrenzeuge, was durchs Fenstergitter drang: „Gnade, Gnade, Herr Kommandant.“ Wo Gefangene einen Baum schleppen, erfährt der Besucher, dass SS-Männer bei der Aktion auf die Baumkrone sprangen und der zurückschlagende Stamm einen Arbeiter erschlug. Das saubere Selbstbild der in Dienst und Freizeit schmuck auftretenden SS wird kommentiert durch Kochs Hinrichtung, die noch 1945 auf Befehl des Reichsführers SS erfolgte, wegen Korruption: Er hatte das SS-Ideal des „hochanständigen“ Massenmörders verfehlt.

Als „modernes, vollkommen neuzeitliches Konzentrationslager“ rühmte Himmler sein Sachsenhausen. Das Gespenst einer Moderne, deren Effektivitätsfantasien von Funktionalität, Rationalisierung und Selektion den Menschen ignorieren, geistert durch diese Fotostrecke.

Bis 28. Oktober, täglich außer Montag von 8. 30 bis 18 Uhr.

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