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Kultur: Das Gespenst

Immer noch gibt es Antisemitismus in Deutschland. Das ist nicht so verwunderlich, wie viele glauben

Von Caroline Fetscher

Alarmglocken läuten. Ein Gespenst, das während der Wohlstandsjahre in den Kellern der Ressentiments überwintert hat, kriecht ans Licht und auf die Straße und bis in ein deutsches Landesparlament. War man noch beruhigt, dass der tolldreiste Sport-Politiker Möllemann mit seinen antisemitischen Vorstößen wenig Wähler anlocken konnte, ist nicht mehr so sicher, wie so etwas heute ausgeht. Antisemitismus ist eine statistische Tatsache, als wäre er ein unvermeidliches Begleitsymptom der Wirtschaftskrise. Vor acht Wochen erschien eine Studie der Universität Bielefeld zur „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“, wonach 62,2 Prozent der Befragten sagen, dass sie es „satt haben, von den Verbrechen der Deutschen an den Juden zu hören.“

Ist das wirklich so erstaunlich? Das Gespenst war ja nicht tot. Es hockte weiter da. Geschrumpft, verschnupft, versteckt, eingeschüchtert – aber da. Antijüdische und xenophobe Stereotypen gab es weiter, hüben wie drüben. Hält man sich die beispiellose Psychopathologie und Raffgier, die mörderische, sadistische Staatsraison des Nationalsozialismus vor Augen, verwundert es kaum, dass zwei, drei Generationen später die Spuren dieses Regimes noch zu erkennen sind. Erst 1979 hatte ja eine breite Debatte begonnen, hatte sich das Empathie-Vakuum langsam gelöst: Mit der Fernsehserie „Holocaust“ leisteten die USA einen weiteren zentralen Beitrag zur 1945 begonnenen, noch unabgeschlossenen Reeducation.

Auf dem Niveau der Heimatgeschichte und mit sich selbst konfrontiert, erschraken die Zuschauer über ihre Geschichte – mehr als bei den Auschwitz-Prozessen der sechziger Jahre. Bis zur Wende hielt der Konsens, danach entdeckten „die Deutschen“ sich als Subjekt der Geschichte. Und recht bald auch als deren Opfer, wobei sich die Schriftsteller-Elite dem trotzigen Tross anschloss: Botho Strauß stimmte seinen „Bocksgesang“ an, Martin Walser wehrte sich gegen die „Auschwitzkeule“ und Günter Grass ließ „Im Krebsgang“ ein Schiff voll deutscher Flüchtlinge ins Meer des Selbstmitleids sinken. Im Umkehrschluss waren nun bei manchen „die Juden“ schuld, die das Land nicht aus der traumatischen Erinnerung entlassen wollen, und die überdies in Israel, finanziert von der Siegermacht USA, Palästinenser knechten. In Frankfurt am Main erstaunte vor kurzem ein junger Gymnasiast seinen jüdischen Lehrer mit der Aussage, es sei „unfair, dass Juden keine Steuern zahlen“. Gelassen und humorvoll erklärte der Studienrat seiner Klasse, dass auch er Steuern zahle, wie jeder Bürger. Das Kind, sagt dieser Lehrer, sei nicht antisemitisch. Aber derjenige, der dem Kind solchen Unfug eintrichtert.

Parallel zur sozialen Regression der Xenophobie ist ein weiteres Phänomen zu beobachten. Munter wird (auch in den Feuilletons) die Wiederentdeckung der Biologie gefeiert – bis hin zum genetischen Determinismus. Zu den Instrumenten analytischer Kritik hatte in den Sechzigern und Siebzigern auch die Psychoanalyse gehört, die uns unsere „Unfähigkeit zu trauern“ erkennen ließ und den „autoritären Charakter“ erklärte. Die Seele, nicht die Gene bestimmten den Deutungshorizont. Keine Gen- oder Hirnforschung der Welt wird die Synapsen finden, in denen Ressentiments wie der Antisemitismus gespeichert sind. Er stellt eine soziale und gesellschaftliche Frage dar, Gegenstand der Analyse, der Aufklärung und der Justiz im demokratischen Rechtsstaat.

Die Frage stellte schon 1966 Adorno in seinem Essay „Erziehung nach Auschwitz“. Illusionslos erkannte er, was heute, etwa für die NPD, umso mehr gilt: „Wir haben es nicht nur mit Menschen zu tun, die wir bilden oder verändern können, sondern auch mit solchen, bei denen die Würfel bereits gefallen sind.“ Mit verhärteten, unansprechbaren Zeitgenossen. „Diesen Menschen gegenüber, die im Prinzip lieber auf Autorität ansprechen“, erklärte Adorno, dürfe auf Autorität nicht verzichtet werden. Gegen antisemitische Manifestationen, müssten die „zur Verfügung stehenden Machtmittel ohne  Sentimentalität angewendet werden“. Damit deutlich wird, dass „gesellschaftliche Autorität, einstweilen dann noch gegen sie steht“.

Adorno wusste, was uns heute erneut dämmert: Dass Entnazifizierung nicht die Angelegenheit einer einzigen Generation ist. Dass sie lange dauert, Aufmerksamkeit und, ja, auch Kampfgeist erfordert. 

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