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Raymond Depardon Foto: Reuters

© REUTERS

Kultur: Das Glück der Einsamen

Ein Europäer in Afrika: Dem Fotografen und Filmemacher Raymond Depardon zum 70.

Von Gregor Dotzauer

Das Haus, sagt er gerne mit einem Sprichwort der Tuareg, ist das Grab der Lebenden. Und so treibt es ihn, den Bauernsohn aus Villefranche-sur-Saône, seit mehr als einem halben Jahrhundert hinaus in alle Welt. Der erste Eindruck von der Wüste, den Raymond Depardon mit 18 Jahren als Fotoreporter der Agence Dalmas von Colomb-Béchar im Süden Algeriens gewann, hat ihn nicht mehr losgelassen und im Lauf der Jahre immer tiefer ins subsaharische Afrika geführt: in den Tschad, nach Niger und Ruanda.

Was er dort suchte, ist indes nichts grundsätzlich anderes als das, was ihn zuletzt fünf Jahre lang bis in die abgelegensten Regionen seiner Heimat reisen ließ. Schlicht „La France“ heißt das große Projekt, das in einen prächtigen Fotoband der Editions du Seuil mündete, eine Ausstellung der Bibliothèque Nationale und in den Film „Journal de France“, der soeben bei den Filmfestspielen von Cannes Premiere hatte.

Die Aufnahmen halten etwas von einem kleinstädtischen, das Pittoreske inszenierende, dem Hässlichen aber keineswegs abholden Frankreich fest, dessen Tage gezählt sind – ohne dass Depardon es verklären wollte. „Mein Blick und meine Erinnerung sind zwei verschiedene Dinge“, hat er immer wieder betont. Während er als Person geradezu sentimental sein könne, suche er als Fotograf die angemessene Distanz. Auch als Dokumentarist des verschwindenden bäuerlichen Lebens, das er selbst nur zu gut kennt, bleibt er auf Abstand. In einer Distanz, die er in jüngeren Jahren, als er noch mit einem Teleobjektiv Jagd auf Prominente wie den Papst, Queen Elizabeth oder die Premierminister der Republik machte, allzu oft vernachlässigte.

Wenn sich heute Menschen auf seinen Bildern finden, sind sie oft von einer eigentümlichen Leere umgeben, die ins Unermessliche wachsen kann, je weiter er seinem alten Fantasma folgt, alles Zivilisatorische hinter sich zu lassen. Depardons Orte und Räume, markiert von städtischem Aderwerk, das auf weite Horizonte zuläuft, haben oft etwas von Wüsteneien. In der Sahara als ihrer vollkommenen Verkörperung musste er aber nicht nur entdecken, dass der „Homme sans l’occident“, wie vor zehn Jahren einer seiner Filme hieß, ein abendländischer Irrtum ist. Er musste sich auch seine Überforderung als Fotograf eingestehen: „Man hat nur einen 30-Grad-Winkel zur Verfügung, die Wüste aber hat 360 Grad.“

Man kann Depardon kaum widersprechen, wenn er erklärt: „Ich halte mich nicht für einen Landschaftsfotografen, wie ich mich auch nicht für einen Porträtisten halte. Ich bin zwischen beidem.“ Das sieht man auch an seinem offiziellen Porträt von Frankreichs neuem Präsidenten. Es zeigt François Hollande anders als Nicolas Sarkozy nicht heroisch vor einer Bücherwand neben einer überdimensionalen Trikolore, sondern als Teil einer entspannten Gartenszenerie vor dem Elysée-Palast, die französische und die europäische Flagge ganz am Rande.

Depardon hat die „Errance“, das Umherirren, in seinem gleichnamigen Bildband als den Antrieb seiner Arbeit beschrieben und, in einem ebenso aufschlussreichen Buch, die „Solitude heureuse“ als ihren Lohn, die glückliche Einsamkeit. In beiden Fällen geht es darum, sich in der reinen Gegenwart der nomadisierenden Einsamkeit zu finden, nicht zu verlieren. Das hat ihn von der Reportagefotografie über das cinéma direct bis an die Grenzen der filmischen Fiktion getrieben und, mit weniger Fortune, sogar darüber hinaus. An diesem Freitag feiert der Magnum-Fotograf, Mitbegründer der Agentur Gamma, Filmemacher und Begierdeschriftsteller Raymond Depardon, der seine Texte am liebsten ins Mikrofon hinein improvisiert, in Paris seinen 70. Geburtstag.

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