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Kultur: Das Glück ist eine alte Orangenschale

Verlierern auf der Spur: Ingo Schulze an der HU

Vermutlich kennt der Schriftsteller Ingo Schulze nur zu gut das Gefühl, ein Verlierer zu sein. Als er letztes Jahr mit seinem Roman „Neue Leben“ auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand und dann bei der Verleihung leer ausging, stand ihm die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. Auf dem sich anschließenden Empfang ward er schnell nicht mehr gesehen. So schildert Ingo Schulze am Dienstagabend im Senatssaal der Berliner Humboldt-Universität zunächst auch sein Unbehagen, als er gebeten wurde, in der Mosse-Lectures-Reihe zum Thema „Verlierer“ einen Vortrag zu halten. Allerdings war es nicht die Erfahrung, sich vergeblich Hoffnungen auf den Deutschen Buchpreis gemacht zu haben, die Schulze nicht ganz wohl sein ließ. Sondern vielmehr die Tatsache, so Schulze, dass er aus Ostdeutschland komme und Mitte vierzig und männlich sei, der typische Wendeverlierer eben. Spontan sei es dann seine Idee gewesen, trotzig „vom Glück des Verlierers“ zu sprechen, „natürlich ein Etikettenschwindel“, wie er später einräumt.

Tatsächlich versucht Schulze intensiv, „dem Verlierer auf die Spur zu kommen“, und sein Vortrag besteht dann hauptsächlich aus Reflexionen zum Begriff des Verlierers. Er beginnt zwar mit der Geschichte vom „Hans im Glück“, einem sprichwörtlich glücklichen, aber etwas tumben Verlierer, der am Ende, als er einen Batzen Gold durch mehrere schlechte Tausche in einen Mühlstein verwandelt, vor allem froh darüber ist, seine Last los zu sein. Doch schon die Geschichte von Bölls Fischer, der zufrieden ist mit dem, was er hat, und keine Fischindustrie aufbauen will, lässt Schulze streng gesellschaftskritisch werden und angesichts leer gefischter Meere von „Nachhaltigkeit“ und dem „ökologischen Glück“ sprechen. Nach einem Exkurs ins Grimm’sche Wörterbuch, in den Brockhaus und zu Google landet Schulze schließlich bei Enzensbergers Aufsatz über den „radikalen Verlierer“ (meint: den arabischen Modernisierungsverlierer) und setzt sich mit dem so ermüdend und politisch korrekt auseinander, dass klar wird: vom Glück des Verlierers, des Verlierens, von glücklichen oder schönen Verlierern will Schulze wirklich nicht sprechen, von Zeitsuchern, Zeitdieben oder Zeittotschlägern, also von Figuren, die sich dem „Effizienzterror“, dem „McKinsey-Prinzip unseres augenblicklichen Denkens und Fühlens“ verweigern.

Das ist schade. Und das weiß wohl auch Ingo Schulze, denn als „Kontrapunkt“, gewissermaßen als Entschädigung, liest er noch eine Geschichte aus seinem neuen, in zwei Wochen erscheinenden Buch. Diese heißt „Keine Literatur oder Epiphanie am Sonntagabend“, und in ihr findet sich alles, wovon Schulze nicht sprechen wollte oder konnte: ein faul verbrachter Sonntag, gänzlich unliterarisch erzählt, und ein großer, unvergesslicher Glücksmoment. Als die Tochter des Erzählers eine alte Orangenschale aufhebt, fühlt sich dieser urplötzlich eins mit sich, der Welt, dem Universum. Auch Schulze ist hier ganz bei sich selbst, ganz bei sich als Geschichtenerzähler, und vielleicht helfen ihm solche Epiphanien, wenn er demnächst wieder knapp an einem Buchpreis vorbeischrammt.

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